Karl Martin Holzhäuser
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Gerhard Glüher

Karl-Martin Holzhäuser:

Licht als Werkstoff

2013

 

Karl-Martin Holzhäuser: Licht als Werkstoff Lassen Sie mich diese Einführung mit einem linguistischen Gedankenexperiment beginnen, das uns die Eigenarten der künstlerischen Arbeit von Karl-Martin Holzhäuser und ihrer Resultate von einer ganz anderen Seite ein Wenig näher bringen kann. Ich nähere mich dem Phänomen seiner Bildwerke und vor allem ihrer Entstehungsart, indem ich schlichtweg beobachte was er tut, wenn er arbeitet. Holzhäuser ist Fotograf und doch ist er es auch nicht, denn Werk und Werkgenese sind zwar ursächlich miteinander verbunden, können jedoch durch die bloße Betrachtung nicht mehr auf ihr Entstehungsmedium rückgeführt werden. Man könnte jetzt einwenden, dass dies ja möglicherweise ein Charakteristikum aller gegenstandslosen Kunst sei, weil die Persona ihrer Urheber kaum mehr über die Spur der Hand nachzuweisen sei. Diesem Einwand entgegenzusetzen wäre, dass die Werkgenese oftmals eben jene Emotionalität, jene Beweisführung der Anwesenheit des Künstlers im Werk als Programm in sich trug. Dies ist die Gelenkstelle und gleichzeitig der Riss, an dem sich die Eigenart des Werkes Holzhäusers an die Gattung der Konkreten Kunst andocken lässt, gleichzeitig sich auch von ihr dezidiert verabschiedet. Sie haben gemerkt, dass es ein Faktum gibt, auf das ich im Folgenden hinlenken möchte, nämlich die Hand und die Handarbeit. Nicht im Sinne von Handarbeit versus Kopfarbeit, sondern über Handwerk als Werk aus der Hand, mit der Hand und durch die Hand werde ich nachdenken. Für Fotografie ist das verblüffend, denn Fotografen sind Seher – in der doppelten Wortbedeutung, und wenn es ein wenig magisch um ihr Werk bestellt ist: umso besser für die PR. Mit der allerdings hat Holzhäuser eher wenig gemein, habe ich ihn doch immer als einen stillen Künstler gesehen, der sich lieber ein gediegenes Netzwerk an verstehenden Freunden aufgebaut als sich in die Mühlen der Publikationsorgane geworfen hat. Dementsprechend würde ich dann auch das bisherige Leben und Werk als ansteigend intensiv, intellektuell anspruchsvoll und gelassen heiter bezeichnen. Allesamt Eigenschaften, die das Wertvolle der philosophischen Langsamkeit wertzuschätzen wissen. Kommen wir also nun zum eingangs erwähnten Textlich-Begrifflichen zurück. Man hat bis vor wenige Jahre noch eine inzwischen fast ausgestorbene Fachbezeichnung für jene Menschen benutzt, die sich eines Fotoapparates bedienten, um damit Abbilder der Welt zu erzeugen; sie hießen "Lichtbildner". Lichtbildner verstanden sich als Produzenten von Bildern aus Licht, und sie wollten sich mit dieser kühnen Berufsbezeichnung programmatisch abgrenzen von den anderen Bildproduzenten, die ebensolche Abbilder durch das Auftragen von Farbmaterial auf Leinwand produzierten. Wer jedoch genauer hinsieht, der müsste das, was Holzhäuser tut "Kunst-Handwerk" nennen und er selbst wäre dann ein Kunsthandwerker. Holzhäuser selbst würde diesen Begriff nie auf sich beziehen, denn die Kunsthandwerker sind dilettierende Bastler, die man mit ihren "Werken" aus Ostereiern, getöpferten Blumenuntersetzern und bemalten Vasen auf Frühlings- und Ostermärkten antreffen kann, deren Arbeit jedoch in keinem Museum zu finden ist. Natürlich ist diese Bemerkung ironisch zu verstehen, niemals würde es mir ernsthaft einfallen, Holzhäuser an den Rand dieses kulturgeschichtlichen Abgrunds der Bastler und Pinsler zu drängen. Dennoch, wenn man den Terminus frei vom Zusammenhang der polemischen Debatten zwischen einer scheinbar "niederen" Handwerkerkunst und einer "hohen", zweckfreien Kunst betrachten könnte, wäre er kein negativ besetzter, denn was um alles in der Welt sollte verwerflich daran sein, wenn jemand mit der Hand Arbeit verrichtet?

 

Einige positiven Argumente, welche hier anzuführen wären sind folgende: kunsthistorisch gesehen haben erstens die ganze Gattung Fotografie und ihre Ausführenden sowieso eine starke wirtschaftliche Rückbindung an die Handwerke gehabt und zweitens hat sich die Kunstgeweberbewegung um Alfred Lichtwark samt seiner Lehrprogrammatik mit großem Interesse dem jungen Gewerke gewidmet. Mit Bruno Paul und dem Deutschen Werkbund sowie mit Henry van de Velde und der Gründung des Weimarer Bauhauses gipfelte diese reformpädagogische Bewegung dann in eine völlig neue Richtung des Verstehens der Dingwelt und leitete über zu der heute noch gängigen Lehrform der Designausbildung. Hierin liegen wiederum die historischen Wurzeln begründet, die den nichtakademischen Laien Aufmerksamkeit schenkte und ihnen die Chance bot, ihre gestalterischen und kreativen Talente angemessen auszubilden. Wir wissen es inzwischen, dass aus der Kunstgewerbebewegung ganze Schulen und so mancher namhafte Künstler entwachsen sind, der ohne diese ursprünglich handwerkliche Schulung nicht entdeckt worden wäre. Den Sprung nach Bielefeld zu machen gelingt von hier aus leicht, denn auch diese Schule war ehemals eine sogenannte Werkkunstschule, bevor sie in den frühen 1970er Jahren in die Fachhochschule umbenannt wurde; und ihre Lehrer und Schüler werden sich wohl mit Stolz die Berufsbezeichnung Kunsthandwerker angeheftet haben, das Ethos des Künstlers verbreitend und mit beiden Füßen auf dem Boden des Handwerks stehend.

 

Wer den innersten anthropologischen Kern der Reformbewegungen kennt, weiss, dass alle ihre Strömungen eine gemeinsame Leitlinie hatten, nämlich die Ganzheitlichkeit des Denkens, des Fühlens und des Handelns. Die Lehrgenealogie von Holzhäuser zu befragen fördert eben dieses zutage, nämlich die Tradition jener ganzheitlichen künstlerischen Menschenbildung rekonstruieren zu können, welche die Hand mit dem freien Geist zu einer Synthese zu bringen versuchte. Die historische Tradition führt uns unmittelbar zu Kilian Breier und zu Oskar Holweck, mittelbar zu Boris Kleint und Johannes Itten. Weiter zurück brauche ich nicht zu gehen, denn den Nucleus bildnerischen Denkens haben wir hier gefunden. Ich meine nicht die legendären "Vorlehren" und "Grundlehren", sondern die Bildung zur Intensität und Hingabe an eine Aufgabe und an ein Material, ohne müde zu werden im Experiment und ohne dass sich irgendwo ein starrer, lebloser Holzhäuser-Stil ergeben hätte. Eine ganze Reihe von Kollegen, Kunsthistorikern und Kritikern haben sich in den vergangenen gut 30 Jahren darum bemüht, den Werken Holzhäusers einen adäquaten Namen zu geben, gelungen ist dies nie (ich gehöre auch dazu). Den kleinsten gemeinsamen Nenner haben wir wohl gefunden, als wir diese Bildform "Lichtmalerei" nannten, inzwischen ist der Künstler selbst bei einer noch spröderen Bezeichnung angekommen, die ebenso trocken ist wie die nummerischen Zahlenreihen seiner Werkgruppen, nämlich "Licht-Bilder".

 

Licht-Bilder - sind dies nun Bilder aus Licht, mit Licht oder durch Licht? Bemühe ich mich gerade um Klärung nichtiger Belanglosigkeiten? Im Zuge der Vorbereitung für diese Einführung habe ich natürlich auch einige Bücher des führenden Theoretikers des Strukturalismus und der Philosophie der "generativen Fotografie" erneut durchforstet, ich meine Max Bense. Dabei ist mir ein Satz aufgefallen, der genau das trifft, worum ich die ganze Zeit ringe, nämlich von den Texten in eine übergeordnete Ebene zu gelangen , die den Geist des Werkes trifft, der ja scheinbar so ganz spröde sich zwischen Ziffern, Plänen, Konzepten und Zahlenreihen verbirgt. Bense schreibt in seinem schwer verdaulichen Buch "Einführung in die informationstheoretische Ästhetik" folgenden Satz: "Poesie ist da, wo verschiedene Wörter zum ersten mal zusammentreffen". Selbstverständlich meinte Bense 1969 damit die Konkrete Poesie, welche damals ihre Hochblüte hatte, doch auf Holzhäuser angewandt trifft diese Aussage auf zweierlei überraschende Weisen zu: erstens im Titel der Arbeit, der immer ein Kompositum ist und zweitens im Zusammentreffen der Hand mit dem Licht. In der Wendung "zum ersten Mal" liegt die Überraschung, die Spannung, das Unerwartete, der Schreck, aber auch die Freude verborgen, ebenso die Enttäuschung und die Überwältigung, für welche sich keine Worte mehr finden lassen.

 

Die Poesie liegt in der Lücke, im Unwahrscheinlichen, im Zufall und in der Möglichkeit des Nicht-Seins. Die Poesie der Holzhäuserschen Werke findet dann ihre vollendete Form, wenn das Unerwartete passiert, wenn die Hand das Licht oder das Licht die Hand überlistet. Es ist die Schönheit der Leere, eigentlich eine Abwesenheit von Licht, die sich in einem ansonsten vollkommenen und vollständig belichteten Raum (dem Fotopapier nämlich) ereignet. Wenn man in Rechnung stellt, dass sowohl die Lehre von Boris Kleint als auch die von Oskar Holweck um das Phänomen der Helligkeit immense zeitliche und energetischen Einsätze forderten und wenn man weiters bedenkt, wie groß die Versuchung permanent ist, das Weiss des Papiers mit einem Zeichen, einer Geste, einer Berührung zu versehen, es also von einem Nichts in ein persönliches Zeichen zu verwandeln, dann erst wird klar, was der Verzicht, dies nicht zu tun bedeutet. Picasso hat einmal gesagt: "Das Schwerste ist die Linie" - auf die lichtbildnerischen Arbeitsprozesse Holzhäusers angewandt können wir den Satz abwandeln und sagen: "Das Schwerste ist die Leere" oder im Sinne Max Benses: das Poetischste ist das Nichts. Zenbuddhistisch klingt diese Passage jetzt, Holzhäuser hat mit dieser Seinslehre sicher nichts zu tun, wohl aber mit dem Immateriellen, das er immer dann zu bewältigen hat, sobald er unsichtbare Zeichen mit einem substanzlosen Medium auf eine weisse Fläche malt. Sicher äußerst interessant wäre der Vergleich des des Zen-Buddhistischen Tuschezeichnens mit dem konzentrierten und meditativen Arbeiten Holzhäusers in der Dunkelkammer, doch diese Untersuchung muß auf einen späteren Zeitraum verschoben werden, da sie den Rahmen des Einführungstextes sprengen würde. Was kann es denn Geistigeres geben, als ein solches Tun – das trotzdem Hand-Werk im ureigensten Sinne des Wortes ist?

 

An dieser werktheoretisch neuralgischen Stelle der Bildidee im Sinne der Produktionsästhetik kann der Kenner des Holzhäuser'schen Werkes bemerken, dass sich der Künstler im Laufe der Jahre befreit hat von der strukturalistischen Dogmatik cartesianischen bzw. Hegelschen Denkens, das die Grundlage der kybernetischen Ästhetik und Ethik ausmachte. Bense operierte stets mit dem Begriffspaar Ordnung und Unordnung, wobei er von einem "Repertoire" an zeichnerischen "Elementen" ausgeht, die in "ästhetische Zustände" überführt werden müssen, wenn so etwas wie hohes ästhetisches Maß erzeugt werden soll. Demnach handelt es sich bei der Erzeugung eines Bildes – ich spreche hier mit Benses Terminologie, nicht mit meiner – "immer um materiale, genauer um stoffliche, diskret und in endlicher Menge fixierbare Elemente". Kreative Produktion will er demnach als "eine Schöpfung aus dem Repertoire, nicht Schöpfung aus dem Nichts" verstanden wissen. Dass eine solche mathematische Ästhetik vor dem historischen Hintergrund jener Jahre durchaus als ein radikaler Neuanfang im Sinne eines Kahlschlages oder einer Stunde Null in Analogie zur Literatur seine Berechtigung hatte, sei hier absolut unangetastet, doch sie übersieht in ihrer rationalen Ausschließlichkeit eben jene menschliche Komponente, die das Chaos, die Leichtigkeit, das Spiel und auch die Leere hervorbringen kann, welche voller Poetik ist. Gerade die großformatigen schwarz-weissen Arbeiten nach 2002 haben wieder einen Plan, eine nummerische Konzeption und ein kalkuliertes Zahlengerüst, das wie ein Bauplan ihrer Gestaltwerdung zugrundeliegt und der Lichtarbeit vorausgeht. Dennoch verrichtet ja im eigentlichen phänomenologischen Sinne nicht das Licht die Arbeit sondern die Hand, welche das Belichtungsgerät über das Papier bewegt.

 

Ist das Denken vor dem Bild ein analytisches, so ist die Bildentstehung ein synthetischer Vorgang, der Figuren (genau genommen sind es ja Spuren) in regelmäßigen Ordnungen in das Weiss der Bildfläche einschreibt, womit eine Struktur oder ein Ganzes sich dem wahrnehmenden Auge darbietet. Der Künstler sieht dabei Nichts außer einem weissen Blatt Papier, das er mit seinen Imaginationen des zukünftigen Bildes ausfüllen muß. In der traditionellen Zeichnung definiert die Linie die Figur, sie ist die Gestalt und die Grenze, an der sich die Leere vom Ding scheidet. Selbst bei allerhöchster Imaginationskraft ist es schlichtweg unmöglich, sich so hochkomplexe lineare Partituren über eine halbe Stunde oder länger zu imaginieren und ich denke, es ist besonders die Grenze zwischen Gestalt und Nichts, die über das Gelingen oder das Scheitern eines Bildes entscheidet. Oskar Holweck erkannte in seinem Lehrwerk mit dem Titel "sehen" die Problematik der Randzonen, denen er einen langen Absatz "Begegnung und Begrenzung" unter der Kapitelüberschrift "Körper und Raum" widmet: "Ein großer Teil der Gestaltungsprobleme ist wohl in diesen Nahtstellen zu suchen. Denn an einem plastischen oder räumlichen Gebilde spielen – schon aus technisch funktionalen Gründen – die Fugen eine ganz bestimmte und bedeutungsvolle Rolle." Was der Lehrer in diesen Sätzen garadezu ängstlich als Warnung gemeint hatte, das hat der Schüler zu seinem eigentlichen Thema gemacht und über die Jahre zu einer "Kunst der Fuge", um ein Bach-Thema zu variieren, zur Perfektion ausgearbeitet. Dass Karl Martin Holzhäuser ein Jazzmusiker ist, kann man seiner Biografie entnehmen und es erscheint mir die Parallelität zu John Coltrane besonders erwähnenswert zu sein, der einmal gesagt hat, dass er nicht mehr die erwarteten Töne spielen wolle, sondern die unerwarteten und die Unwahrscheinlichen, denn sie erst ergäben die Spannung des Stückes.

 

Viele der Binnenformen, aber vor allem seine Bildgestalten (die Artefakte) an sich, sind Ergebnisse von ästhetischen Erwägungen und Kalkülen, die vor dem Gestaltungsprozess stehen. Wenn gelegentlich der Begriff des "gestischen" Arbeitens im Zusammenhang mit Holzhäusers Arbeitsweise vorkommt, dann ist er lediglich unter dem Aspekt metaphorischer Deutung korrekt, nämlich in dem Sinne, dass die Bilder und ihr Entstehungsprozess eine hinweisende Ausdrucksform auf etwas Anderes, auf etwas "Eigentliches" sind – und dieses Eigentliche ist der Plan, die Struktur, das Konzept, die Partitur hinter der visuellen Erscheinungsform.

 

In diesem Sinne weist Holzhäusers Arbeitsweise eine verbüffende und bisher nicht beachtete Ähnlichkeit mit derjenigen von Paul Cézanne auf. Cézanne sprach explizit von "Realisierungen" im Malakt, wenn er sich "auf das Motiv" begeben hatte. Ebenso wie Cézanne sich quasi körperlich in sein Bild begeben hatte, stellt sich Holzhäuser über sein Blatt bzw. ist im Prozess der Bildanlage direkt über der Arbeit. Cézanne hat Farbpunkte (sog. "tachés") gesetzt und leere Stellen in der Leinwand stehenlassen. Die diskreten Farbtupfer des immer wieder neu aufgesetzen Pinsels stehen stellvertretend für ein mosaikartiges Fragment aus einer Totalität des Bildgedankens und des Sehens an sich. Das Bild ist fertig, bevor der Malakt beginnt. Die Realisierung im Malakt ist letztlich eine Übersetzung, eine Materialisierung von Vorstellungen, wie eine Raumstelle oder einer Farbwahrnehmung zu transformieren wäre in die Sprache von Leinwand, Farbe und Pinselspur. Natürlich sind weder Cézannes noch Holzhäusers Bilder reine Umsetzungen von Kunst- und wahrnehmungstheorie, sondern sie sind hochgradig sinnlich-ästhetische Betrachtungserlebnisse. Holzhäusers lineare Züge mit dem Lichtrakel sind genau solche Vollzüge der Realisierungen von schwarz-weissen bzw. farbigen konzeptuellen Plänen, die sich zu Bildgefügen zusammensetzen. Holzhäusers Werk hat eine Grammatik, seine Arbeiten und Bildgruppen sind Visualisierungen von Strategien, von Denkfiguren, von Organisationsplänen und Gesetzmäßigkeiten, deren Ursprung sowohl im menschlichen Denken als auch im Bauplan der Natur zu finden ist. Hierbei denke ich zunächst an die "generative Grammatik" welche sicher die nächste Methode linguistisch-mathematischer Art ist, aus der sich die Bildverfahren der generativen Fotografie ableiten lassen. Auf diese historischen Wurzeln greift der Künstler zwar gelegentlich noch zurück, wenn er seine Konzepte erstellt, doch interessanter sind Verbindungen zu naturphysiologischen Untersuchungen und phänomenologischen Beobachtungen, wie sie einerseits bereits das 19. Jahrhundert etwa von Erich Heckel, Wilhelm Ostwald und Henri Bergson durchgeführt wurden, andererseits auch zu aktuellen mathematischen Simulationen in Verbindung mit der Chaostheorie und ihren bildhaften Analogien. Es geht hier in der Kunst wie dort in der Naturwissenschaft um Erscheinungen von beobachtbaren wie unsichtbaren Phänomenen, welche trotz allen Kalküls und trozt aller Wahrscheinlichkeit Reste von Unsicherheit, Risiken, Fehler und nicht erklärbare Störstellen aufweisen, die das ganze System bzw. die Theorie zum Einsturz bringen können. Haben diese Phänomene nicht eine große Ähnlichkeit mit den weissen Stellen der nackten Leinwand Cézannes? Genau hier, in der Unberechenbarkeit, in den weissen Flecken eines puren Untergrundes per se nämlich liegt auch die Glaubhaftigkeit und das oben erwähnte Menschliche versteckt, das die augenscheinliche Kühle der Bilder nicht vermuten läßt. Führen wir uns vor Augen, dass diese Arbeiten mit einer technischen Apparatur erzeugt werden, die der Künstler inzwischen derartig perfekt entwickelt hat, dass sie in der Lage ist, auch die komplexesten Gestaltprogramme in Lichtimpulse zu übersetzen, so könnte man bald den Schluß ziehen, dass der Künstler doch vielleicht in den kommenden Jahren eine Vollautomatisierung, eine Art von CAD-Lichtfräse konstruieren könnte, die ein Rechner ansteuert und er selbst sich die Hände nicht mehr schmutzig zu machen bräuchte. Eine erschreckende Perspektive? Nein, es ist alles schon einmal dagewesen: damals 1922 als Lászlo Moholy-Nagy drei Bilder bei einer Emaillefabrik bestellte und nur die Koordinaten der Figuren angab, oder 1964, als der Computerpionier Georg Nees bereits eine primitive computergesteuerte Zeichenmaschine gebaut hatte. Niemals wird diese vollständige computergestützte Konzeption bei Holzhäusers Arbeit aufkommen, denn seine Belichtungsmaschine, die er entweder "Lichtpinsel" oder "Lichtrakel" nennt, ist eigentlich ein Instrument und kein Apparat. Mit diesem Instrument spielt er praktisch Töne aus Licht und die Bilder sind Realisationen, Melodien, deren Partituren er selbst vorher geschrieben hat. Das Arbeitswerkzeug ist ein mechanisches und der Mensch, der es spielt, tut dies mit seinem Körper. An dieser Stelle schließt sich auch wieder der Kreis zwischen Geist und Hand, genauer gesagt findet hier die Symbiose der beiden Systeme statt. Diese beiden Eigenschaften verleihen den perfekt geplanten Werken ihre symphatischen Reste des Vagen, des Unvorhersehbaren und des Lebendigen. Genau so, wie eine Partitur nur ein Teil eines Musikstückes ist, das seiner Aufführung bedarf, sind die Bilder Holzhäusers Aufführungen von Lichtpartituren, die wahrgenommen werden müssen. Dies ist auch der Grund dafür, dass sie sich nicht plötzlich und synchron ereignen, wie dies die meisten Bilder bei der Betrachtung tun, sondern sie entwickeln ihre Zeit im Raum des Bildgevierts. So, wie sie ihre lange Zeit der Entstehung im Dunkeln brauchten, verlangen sie von uns Betrachter/innen eine langsame und sorgfältige Lektüre. Es sind entschleunigte Bilder, die uns ihre Betrachtungszeit um ein Vielfaches in Form von Erkenntnis zurückgeben – Selbsterkenntnis meine ich, nichts Geringeres! Wenn er das Denken und Handeln, das der Entstehung seiner Arbeiten zugrunde liegt, auch seinen Schülern mitgegeben hat, so wird sich seine "Schule" ganz sicher längst in die Welt verbreitet haben. Nicht in dem kleingeistigen Sinne des "Stils" einer akademischen "Klasse", sondern als Impuls, der sich als Idee vom immateriellen Bild irgendwo in den Köpfen oder Herzen seiner Studenten eingenistet hat und neue, überraschende Formen hervorzubringen vermag. So stelle ich noch ein letztes Zitat an den Schluß des Textes, es ist aus einem Song von Andre Heller, der den schönen Satz gesagt hat: "Die wahren Bilder sind im Kopf, und sind sie nicht im Kopf, so sind sie nirgendwo."

 

© Gerhard Glüher

 

Vgl. Rudolf Großkopf: Alfred Lichtwark, Hamburg (Ellert und Richter) 2002 Unverzichtbar zum Verständnis der informationstheoretischen Ästhetik ist Benses Werk "Aesthetica – Metaphysische Beobachtungen am Schönen", Stuttgart (Deutsche Verlags-Anstalt) 1954.

 

Max Bense: Einführung in die informationstheoretische Ästhetik, Hamburg (Rowohlt) 1969, S. 127

 

Wer diese These weiter denken möchte, dem ist Francois Julien: Über das Fade – eine Eloge, Berlin (Merve) 1999 zu empfehlen.

 

Äußerst erhellend in diesem Sinne ist der Text "Der Einbruch des Sinns" von Roland Barthes; in ders.: das Reich der Zeichen, Frankfurt Main, 1981, S. 94ff Siehe hierzu Manfred Eigen und Ruthild Winkler: Das Spiel. Naturgesetze steuern den Zufall, München / Zürich (Pieper Vlg.) 1975

 

In Bezug auf das Fotogramm hatte Lazló Moholy-Nagy bereits 1928 geschrieben: " ... wesentlich ist: Eine nie versagende Gefühlssicherheit gegenüber den Erscheinungen des Lichtes – seiner Aktivität in der Helle, seiner Passivität im Dunkel – seiner feinsten Strahlungsverteilung bis zum vollkommenen Ausgleich der kleinsten und größten Spannungswerte." Laszló Moholy-Nagy: Photographie ist Lichtgestaltung, in: Photographische Korrespondenz, 1. Mai 1928.

 

Über die Rolle der Hand siehe auch das Kapitel "Die Hand" in Richard Sennetts Werk "Handwerk", Berlin 2008, S. 201ff

 

Vgl. Hierzu das Kapitel "Das Ganze und die Teile" in: Wolfgang Metzger: Gesetze des Sehens, Frankfurt M., 1975, S. 137ff

 

Vgl. "Sehen – Grundlehre von Oskar Holweck an der Staatlichen Werkkunstschule Saarbrücken"; Hg.: Dr. Mark Buchmann, Zürich (Kunstgewerbemuseum) 1968, S. 23 Umfassend dargestellt sind die Ursprünge der Computergrafik im Ausstellungskatalog "Ex Machina – Frühe Computergrafik bis 1979. Die Sammlung Franke und weitere Stiftungen in der Kunsthalle Bremen, Hg: Wulf Herzogenrath und Barbara Nierhoff-Wielk, Bremen 2007

 

Gerhard Glüher

Das strukturierte Licht des Karl Martin Holzhäuser

2007

 

Bereits auf den ersten Blick wird ersichtlich, dass man - ohne sich kunsthistorisch stilistisch zu verbiegen - den Bielefelder Künstler Karl-Martin Holzhäuser in die Rubrik der klassischen Moderne einfügen kann. Seine Bilder sind großformatig, farbflächig, gegenstandslos, konstruktiv, sie sind emotional distanziert, sie rechnen mit einer Tradition der Loslösung von außerbildlichen Bezügen, der Künstler ist in ihnen nur noch partiell aufspürbar, sie brauchen den weissen Galerieraum als Präsentationsort. Sie führen innerbildliche Form-Dialoge auf einem hohen Niveau, das den kundigen und mündigen Betrachter/Betrachterin voraussetzt - kurzum: sie haben die Fehden, Revolutionen und Geburtswehen hinter sich. Man könnte von reifen, sublimierten Werken sprechen, die ohne Überheblichkeit auf einer soliden modernen Bildtradition stehen, der sie noch einmal hochinteressante Variationen hinzufügen. Welche das sind erzähle ich gleich, zuvor muß ich aber historisch ein Stück zurückblicken, damit Sie die Zusammenhänge besser verstehen. Am Beginn der 1970er Jahre, als Holzhäuser seine eigenständige Werklinie nach einer Phase der angewandten Fotografie zu entwickeln begann, waren Maler wie Max Bill, Mark Rothko, Barnett Newman, Jackson Pollock oder Elsworth Kelly am Zenit ihres Ruhms angekommen, das heisst, die Lehre von Joseph Albers in den USA hatte reiche Früchte getragen. Ich erwähne nicht ohne Grund Albers, denn Holzhäuser hatte in den 1960er Jahren bei Oskar Holweck in Saarbrücken die gestalterische Grundlehre mit dem programmatischen Titel "Sehen" durchlaufen. Sein Lehrer wiederum stand in der akademischen Linie und Tradition von Boris Kleint, der wiederum Schüler von Johannes Itten gewesen war - damit schließt sich der Kreis zum Bauhaus. Holzhäuser hatte sich also das Denk- und Handwerkszeug aus einer Quelle geholt, die sich genuin der Moderne verpflichtet fühlte, wie sie zum Beispiel der Theoretiker Clement Greenberg formuliert hatte. Trotz dieser kunstphilosophischen Rückbindung an die ganz große Schule des 20. Jahrhunderts bestehen einige Unterschiede, denn Holzhäuser ist kein Maler. Seine Bilder sind Fotoarbeiten, keine Öl- oder Acrylgemälde.

 

Was also hätte der Künstler in der Tradition der Moderne mit dem geistigen Rüstzeug des strukturalistischen Denkens dem scheinbar ausgereizten Gefüge gegenstandsloser Bilder noch hinzufügen können, das als Neuerfindung von Bildkonzeptionen akzeptiert worden wäre? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir das Medium wechseln und hinüber in die Fotografiegeschichte blicken. Dort sah es allerdings in jenen späten 1960er Jahren überhaupt nicht nach Innovation und Abstraktion aus, sondern Männer wie Karl Pawek zum Beispiel riefen die "totale Fotografie - die Optik des neuen Realismus" (ich zitiere hier einen bekannten Buchtitel) aus. Die "Weltausstellungen der Fotografie" widmeten sich ganz einer der Lebenswelt zugewandten sozialkritischen Reportage und Redaktionen wie "Magnum" hatten einen ziemlich großen publizistischen Heiligenschein. Auf welchem Wege also konnte es gelingen, diese starke Strömung innerhalb des Mediums zu umfahren, um genau das Gegenteil zu erreichen, nämlich eine gegestandslose Fotografie zu schaffen? Auch hier hatte ja bereits die klassische Avantgarde der 1920er und 1930er Jahre Antworten gegeben und Resultate hervorgebracht, die sich in der experimentellen Lehre von Otto Steinert im Begriff der "autonomen fotografischen Gestaltung" konzentrierten. Trotzdem blieben die Bildresultate hinter einer Theorie der Autonomisierung des Bildes zurück, denn weder das Fotogramm noch die Langzeitbelichtung erzielten die völlige Loslösung vom Bezugsobjekt. Der Grund könnte darin zu finden sein, dass Fotografie ein auf Apparate gestützes Bildverfahren ist, das eine abbildbare Welt voraussetzt, um davon Abbilder schaffen zu können. Genau hier in diesem winzigen, aber entscheidenden Detail liegt der Schlüssel zur Lösung der Frage: es geht um die Bilderzeugung - also im Grunde genommen und die Bilderfindung - und nicht um die Wiedergabe irgendwelcher bereits existierender Artefakte, in welcher verfremdeten Art und Weise auch immer. Bild und nicht Abbild, das Schöpferische und nicht das Dienende, das Autonom-Kreative und nicht das Vorgedachte, dies waren die revolutionären Leitsätze der jungen Künstlergeneration der 1960er und 1970er Jahre. Oder sagen wir es mit anderen Worten: den Apparat dazu zu bringen, dass er Bilder hervorbringt, die absolut nicht mehr mimetisch zu deuten sind, ja noch nicht einmal einen erzählenden Anschein haben sollen. Dies war kunsttheoretisch betrachtet die gewaltige mediale Herausforderung. Einen Königsweg gab es nicht, die Pioniere mussten Neuland betreten.

 

Sie alle wissen wahrscheinlich, dass die avantgardistischste fotografische Strömung der 1970er Jahre aus der Bielefelder Hochschule kam und sich 1968 anläßlich einer Ausstellung, den Namen "Generative Fotografie" gegeben hatte. Initiator war der Freund und Kollege Holzhäusers, Gottfried Jäger, ebenso wie er Professor an der ehemaligen Werkkunstschule, später Fachhochschule in Bielefeld. Aktuell lebt eine Theoriediskussion vor allem in den Vereinigten Staaten auf, die ebenso den Begriff "generative Kunst" verwendet, doch offensichtlich hat man dort noch nicht registriert, dass die historische Quelle und die Wurzel des generativen Werkprozesses exakt hier in der avantgardistischen Fotografie mit dem Namen Generative Fotografie zu suchen ist und nicht in obskuren narrativen oder sakral-typologischen Bildfolgen vorheriger Jahrhunderte. Es muß ganz klar gesagt werden, dass generative Kunst, wenn es denn je eine solche gegeben hat, ihren Ursprung in der Fotografie und in den Personen Jägers und Holzhäusers hatte - nirgendwo sonst.

 

Kehren wir zurück zu Karl Martin Holzhäuser. Sein Weg zur Gegenstandslosigkeit führte zunächst über die kamerafotografische Verfahrenstechnik in Gestalt der von ihm so genannten "mechano-optischen Untersuchungen", denen eine kurze Phase der "Aufglasmalereien" folgte bzw. mit ihnen parallel verlief, um dann zu der heute noch angewandten Bildgattung der Lichtmalereien zu gelangen. Meine Ausführungen klingen historisch-biografisch konsequent, doch dies täuscht, wenn wir uns die diversen Namen einmal ansehen, mit denen verschiedenen Historiker und Theoretiker in all den Jahren die Arbeiten des Künstlers zu bezeichnen versuchten. "Mechano-optische Untersuchungen, Lichtmalerei, konkrete Gesten, Lichtbilder, abstrakte Fotografie, generative Fotografie, autonome Fotografie, bildschaffende Konzepte, bildgebende Fotografie, inszenierte Fotografie, konkrete Fotoarbeiten, konzeptuelle Fotografie". Mit dieser Ansammlung kunst- und medientheoretischer Begriffe möchte ich Sie nicht dazu verleiten, meinen Ausführungen nicht weiter zu folgen, weil sie sowieso nur kunstphilosophische Interessenten oder fototheoretische Experten interessieren könnten, sondern ganz im Gegenteil: es sind historische Beweise dafür, dass kundige Wissenschaftler seit jBeginn seiner Ausstellungstätigkeit darum bemüht waren, die Werke Holzhäusers in einen passenden begrifflichen Rahmen zu bringen, um ihrem Wesen und dem Phänomen ihrer Entstehung gerecht zu werden. Alle Bezeichnungen entstammen Buchtiteln, Ausstellungskatalogen, Redetexten etc. die sich der Beschreibung und der Analyse des Werkes seit 1972 widmen. Es stellt sich daher die Frage, woran es liegt, dass letzendlich alle Ansätze - einschließlich meiner eigenen - dem Charakteristischen und Ausgezeichneten der Arbeiten zwar nahe kommen, aber ihren Kern nicht hundertprozentig zu treffen scheinen. Wenn dies nämlich so wäre, hätte man sie ein für allemale "Lichtmalereien" genannt und damit wäre der kunsthistorischen Lexikalisierung Genüge getan gewesen. Ja, der Künstler selbst legt sich nicht fest, er ist damit einverstanden und kann damit ganz gut leben, dass man seine Arbeiten den diversen Gattungen der Kunst, der Bilderwelt wie der Fotografie zugeschrieben hat und immer noch zuschreibt. Indessen wäre es absolut falsch zu behaupten, dass er à la Man Ray oder Marcel Duchamp aktiv oder subversiv zu jener babylonischen Begriffsverwirrung durch gezielte Interviews oder Titeleien beiträgt, um dann seine diebische Freude daran hätte, wenn sich die Damen und Herren Kritiker gegenseitig die kontroversen Theorien um die Köpfe schlagen. Nein, so ist es nicht und so ist vor allem das Handeln und Denken Holzhäusers nicht.

 

Seine Titel sind weder assoziativ noch beschreibend; sie verweisen nicht auf die Welt der Bilder, sondern auf den Zeitpunkt ihrer Entstehung. Die Titel bestehen aus einer Kombination von arabischen Ziffern, Punkten, Kommata, Schrägstrichen; es sind allesamt Zeichen, die ehe der Mathematik bzw. dem linguistischen Zeichensatz entstammen als der Kunst. Der Künstler arbeitet in diesem Sinne wie ein akribischer Archivar seines eigenen Künstlerlebens, so ähnlich wie es auch zum Beispiel On Kawara mit seinen "Date-Paintings" tut. Holzhäuser gibt mittels dieses nummerischen Systems gleichzeitig zu verstehen, dass er einerseits an einer Nachvollziehbarkeit der Geneses des Werkes interessiert ist, wie er andererseits skeptisch gegenüber den namengebenden Verweisen und Hinweisen unter und in den Bildern ist. Wer sich ein wenig in die Systematik der Werk- und arbeitsmethodik Holzhäusers eingearbeitet hat, versteht die klare Konsequenz der Titel. Holzhäusers Arbeitsweise ist überwiegend auf die Serie, die Sequenz, die Folge, die Reihung, das Tableau angelegt, oder mit anderen Worten, es gibt selten Einzelbilder, die in keinem Zusammenhang zu anderen Bildern stehen. Immer finden wir zeitliche Abfolgen, die mit einem ganz bestimmten Bild beginnen und mit einem letzten Bild enden. Dies macht die Werkgenese transparent, denn die niedrigste Nummer bezeichnet das erste, die höchste das letzte Bild im zeitlichen Ablauf der Entstehung. Die genealogischen Reihen werden unter der gleichen Registernummer geführt, die immer am Anfang vor der individuellen Bildnummer steht. Unter der Rubrik einer seriellen Arbeitsweise gilt es dann nochmals zu unterscheiden zwischen methodisch kompletten Reihen, bei denen das Werk immer das ganze Ensemble aus zwei bis x Bildern ist und solchen Serien, hinter denen als Gemeinsamkeit ein gestalterisches oder strukturdeterinierendes Konzept steht. Dabei ist die zweite Gruppe wesentlich schwieriger zu verstehen in ihrem Aussagegehalt als die aufeinander aufbauenden Serien.

 

Jedes serielle Arbeiten setzt eine abstrakte Logik bzw. ein rationales Kalkül oder eine erzählerische Handlung voraus. Mit anderen Worten, es muss solche strukturellen Entscheidungen oder Urteile geben, die sich in Axiomen wie zum Beispiel "entweder - oder", "wenn - dann" bzw. "Zuerst - danach", oder "gleichzeitig" formulieren lassen. Warum muss ich an dieser Stelle meiner Rede solche schwierigen und scheinbar weit von den Bildern entfernten Überlegungen anstellen? Die Antwort lautet: weil eine Systematik oder ein Strukturgerüst das Werk prägt, seine Existenzberechtigung trägt und zum beträchtlichen Teil seine Gestalt bedingt. Setzen Sie aber jetzt nicht meinen Begriff der "Struktur" gleich mit demjenigen des klassisch-malerischen "Bildaufbaus", den man ja gelegentlich auch so nennt. Ich spreche von Gestaltungsgesetzen, die man besser Gestaltgesetze nennen sollte. Viele der Binnenformen - oder sagen wir der Figuren - der Bildern, aber vor allem seine Bildgestalten (die Artefakte) an sich, sind Ergebnisse von ästhetischen Erwägungen und Kalkülen, die vor dem Gestaltungsprozess stehen. Wenn gelegentlich der Begriff des "gestischen" Arbeitens im Zusammenhang mit Holzhäusers Arbeitsweise vorkommt, dann ist er lediglich unter dem Aspekt metaphorsicher Deutung korrekt, nämlich in dem Sinne, dass die Bilder und ihr Entstehungsprozess eine hinweisende Ausdrucksform auf etwas Anderes, auf etwas "Eigentliches" sind - und dieses Eigentliche ist der Plan, die Struktur, das Konzept, die Partitur hinter der visuellen Erscheinungsform. (Es gab allerdings als Ausnahme von dieser Regel in den Jahren 1991 bis ca 1993 eine Phase, in welcher der Künstler tatsächlich spontane körperlich-physische Aktionen mit einer frei geführten Lampe anfertigte, die dann auch einen entsprechend hohen Anteil an Zufälligkeit trotz aller Planung beinhalteten.). In diesem Sinne weist Holzhäusers Arbeitsweise eine verbüffende und bisher nicht beachtete Ähnlichkeit mit derjenigen von Paul Cézanne auf. Cézanne sprach explizit von "Realisierungen" im Malakt, wenn er sich "auf das Motiv" begeben hatte. Ebenso wie Cézanne sich quasi körperlich in sein Bild begeben hatte, stellt sich Holzhäuser über sein Blatt bzw. ist im Prozess der Bildanlage direkt über der Arbeit. Cézanne hat Farbpunkte (sog. "tachés" gesetzt und leere Stellen in der Leinwand stehenlassen. Die diskreten Farbtupfer des immer wieder neu aufgesetzen Pinsels stehen stellvertretend für ein mosaikartiges Fragment aus einer Totalität des Bildgedankens und des Sehens an sich. Das Bild ist fertig, bevor der Malakt beginnt. Die Realisierung im Malakt ist letztlich eine Übersetzung, eine Materialisierung von Vorstellungen, wie eine Raumstelle oder einer Farbwahrnehmung zu transformieren wäre in die Sprache von Leinwand, Farbe und Pinselspur. Natürlich sind weder Cézannes noch Holzhäusers Bilder reine Umsetzungen von Kunst- und wahrnehmungstheorie, sondern sie sind hochgradig sinnlich-ästhetische Betrachtungserlebnisse. Holzhäusers lineare Züge mit der Lichtrakel sind genau solche Vollzüge der Realisierungen von schwarz-weissen bzw. farbigen konzeptuellen Plänen, die sich zu Bildgefügen zusammensetzen. Holzhäusers Werk hat eine Grammatik, seine Arbeiten und Bildgruppen sind Visualisierungen von Strategien, von Denkfiguren, von Organisationsplänen und Gesetzmäßigkeiten, deren Ursprung sowohl im menschlichen Denken als auch im Bauplan der Natur zu finden ist. Hierbei denke ich zunächst an die "generative Grammatik" welche sicher die nächste Methode linguistisch-mathematischer Art ist, aus der sich die Bildverfahren der generativen Fotografie ableiten lassen. Auf diese historischen Wurzeln greift der Künstler zwar gelegentlich noch zurück, wenn er seine Konepte erstellt, doch interessanter sind Verbindungen zu naturphysiologischen Untersuchungen und phänomenologischen Beobachtungen, wie sie einerseits bereits das 19. Jahrhundert etwa von Erich Heckel, Wilhelm Ostwald und Henri Bergson durchgeführt wurden, andererseits auch zu aktuellen mathematischen Simulationen in Verbindung mit der Chaostheorie und ihren bildhaften Analogien. Es geht hier in der Kunst wie dort in der Naturwissenschaft um Erscheinungen von beobachtbaren wie unsichtbaren Phänomenen, welche trotz allen Kalküls und trozt aller Wahrscheinlichkeit Reste von Unsicherheit, Risiken, Fehler und nicht erklärbare Störstellen aufweisen, die das ganze System bzw. die Theorie zum Einsturz bringen können. Haben diese Phänomene nicht eine große Ähnlichkeit mit den weissen Stellen der nackten Leinwand?

 

Genau hier, in der Unberechenbarkeit, in den weissen Flecken eines puren Untergrundes per se nämlich liegt auch die Glaubhaftigkeit und - ja auch dies - das Menschliche versteckt, das die augenscheinliche Kühle der Bilder nicht vermuten läßt. Führen wir uns vor Augen, dass diese Arbeiten mit einer technischen Apparatur erzeugt werden, die der Künstler inzwischen derartig perfekt entwickelt hat, dass sie in der Lage ist, auch die komplexesten Gestaltprogramme in Lichtimpulse zu übersetzen, so könnte man bald den Schluß ziehen, dass der Künstler doch vielleicht in den kommenden Jahren eine Vollautomatisierung, eine Art von CAD-Lichtfräse konstruieren könnte, die ein Rechner ansteuert und er selbst sich die Hände nicht mehr schmutzig zu machen bräuchte. Eine erschreckende Perspektive? Nein, es ist alles schon einmal dagewesen: damals 1922 als Lászlo Moholy-Nagy drei Bilder bei einer Emaillefabrik bestellte und nur die Koordinaten der Figuren angab, oder 1964, als der Computerpionier Georg Nees bereits eine primitive computergesteuerte Zeichenmaschine gebaut hatte. Niemals wird diese vollständige computergestützte Konzeption bei Holzhäusers Arbeit aufkommen, denn seine Belichtungsmaschine, die er entweder "Lichtpinsel" oder "Lichtrakel" nennt, ist eigentlich ein Instrument und kein Apparat. Mit diesem Instrument spielt er praktisch Töne aus Licht und die Bilder sind Realisationen, Melodien, deren Partituren er selbst vorher geschrieben hat. Das Arbeitswerkzeug ist ein mechanisches und der Mensch, der es spielt, tut dies mit seinem Körper. Diese beiden Eigenschaften verleihen den perfekt geplanten Werken ihre symphatischen Reste des Vagen, des Unvorhersehbaren und des Lebendigen. Genau so, wie eine Partitur nur ein Teil eines Musikstückes ist, das seiner Aufführung bedarf, sind die Bilder Holzhäusers Aufführungen von Lichtpartituren, die wahrgenommen werden müssen. Dies ist auch der Grund dafür, dass sie sich nicht plötzlich und synchron ereignen, wie dies die meisten Bilder bei der Betrachtung tun, sondern sie entwickeln ihre Zeit im Raum des Bildgevierts. So, wie sie ihre lange Zeit der Entstehung im Dunkeln brauchten, verlangen sie von uns Betrachter/innen eine langsame und sorgfältige Lektüre. Es sind entschleunigte Bilder, die uns ihre Betrachtungszeit um ein Vielfaches in Form von Erkenntnis zurückgeben - Selbsterkenntnis meine ich, nichts Geringeres! © Gerhard Glüher

 

Björn Egging

Subjektive Rationalität Zu den Bildwelten Karl Martin Holzhäusers

In: Karl Martin Holzhäuser Lichtmalerei 2002|2003|2004 Katalog zur Ausstellung Licht-Bilder Kunsthalle Bielefeld, 2004

 

"Mit Fotografie haben meine aktuellen Arbeiten wenig zu tun." [1] Diese Selbsteinschätzung von Karl Martin Holzhäuser macht deutlich, dass der Bielefelder Professor für Fotografie auch in seinen jüngsten Werkgruppen auf die beiden konstitutiven Merkmale herkömmlicher fotografischer Bilderzeugung verzichtet: die Abbildung der äußeren Erscheinungswelt unter Zuhilfenahme einer Kamera. Holzhäusers Lichtmalerei kommt ganz ohne optischen Apparat und reales Motiv aus. Graustufige oder farbige Streifen gliedern in unterschiedlicher Breite und Länge das in der Regel quadratische Bildformat, feine Strichstrukturen und blockhafte Flächen füllen den Bildraum aus oder sind zu ausgewogenen Kompositionen arrangiert. Seine meist großformatigen Lichtmalereien bilden nicht die sichtbare Welt ab, sie sind Fotografien im ursprünglichen Wortsinn, mit Licht gemalt [2] Das heisst nicht, dass die Arbeiten nichts darstellten. Der ihnen zugrundeliegende Bildbegriff vom autonomen oder konkreten Kunstwerk ist für die Malerei spätestens seit der Avantgarde legitimiert, in die Geschichte der Fotografie hielt er sukzessive Einzug mit den Entwicklungsstufen ungegenständlicher Bilderzeugung, die von Alvin Langdon Coburns und Paul Strands ersten abstrakten Versuchen über die Fotogramme von Moholy-Nagy, Man Ray und Christian Schad bis zur sogenannten Subjektiven und Generativen Fotografie reichen [3]. Holzhäusers technische Vorgehensweise ist ebenso einfach wie aufwändig und bei allen Arbeiten grundsätzlich gleich. Der Künstler bedient sich eines Lichtgriffels, d. h. einer langen schmalen Apparatur, die an bestimmten Stellen Licht aussendet und die er in völliger Dunkelheit entlang einer Schiene über das lichtempfindliche Papier führt. Dieses wird direkt belichtet, ohne dass ein Objektiv dazwischengeschaltet ist. Auf der Unterseite des Gerätes lässt sich durch parallel angeordnete kleine Schieber die Lichtmenge regulieren. Sind alle Regler geschlossen, gelangt kein Licht aus dem Innern der Leiste auf das empfindliche Papier, sind mehrere Schieber gleichzeitig geöffnet, verändert sich die Breite der Schlitze, und es können in einem Durchgang verschiedene Stellen des Papiers belichtet werden. Lichtstärke, Farbfilter und Spaltbreite legt Holzhäuser in einem Programm fest, aber schon die Geschwindigkeit, mit der er den Griffel über das Papier zieht, ergibt sich trotz eines Kompositionsplanes meist intuitiv im Arbeitsprozess. Das Ergebnis der Bilderzeugung kann Holzhäuser ohnehin frühestens während der Entwicklung sehen, bei den farbigen Arbeiten sogar noch später, wenn die fertigen Bilder aus dem Labor kommen. Nicht immer ist das Resultat zufriedenstellend, aber genau das mache auch den Reiz seiner Vorgehensweise aus, sagt Holzhäuser.

 

Sein Arbeitsprinzip folgt dem kalkulierten Zufall, wobei das Programmatisch-Konzeptuelle natürlich den Gestaltungstechniken der Generativen Fotografie geschuldet ist. Während der Anteil an informationsästhetischen Vorstellungen, die Holzhäuser im Studium bei Max Bense an der HfbK in Hamburg kennen und schätzen lernte, stetig abzunehmen scheint, ist die Spontaneität im Schaffensprozess in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich gewachsen. Dennoch legt Holzhäuser jeden Arbeitsablauf in einer Art Partitur genau fest. Im Dunkeln muss jeder Handgriff sitzen. Es ist der Wunsch des Künstlers, möglichst viele Unwägbarkeiten auszuschließen, die die gewünschte Bildgenerierung stören könnten. Der gestische Duktus des Lichtpinsels aber soll erhalten bleiben. "Ich bin nicht nur vom Programm geleitet, auch von der eigenen Befindlichkeit, vom Augenblick" [4] Das Spannungsverhältnis zwischen errechnetem Programm und eigenhändiger Ausführung ist als Leitmotiv seiner Lichtmalerei häufig herausgestellt worden [5]. Aber zu welchen bildnerischen Ergebnissen führt Holzhäusers Methode?

 

"Meine Bilder zeigen nichts, sie zeigen nur sich selbst." [6]

 

Holzhäusers Lichtmalereien wirken zunächst durch ihre präzise Erscheinung und technische Anmutung. Das Gefüge aus Linien und Flächen, die feinen Rasterungen oder auch körperhaften Formen lassen kaum erkennen, dass die Arbeiten nur zum Teil maschinenproduziert sind und in der Dunkelkammer mit Hilfe einer handgeführten Apparatur erzeugt wurden. Erst auf den zweiten Blick offenbaren die Bilder, die in Ermangelung eines Negativs nicht neu abgezogen werden können und folglich alles Unikate sind, ihren einmaligen Charakter. Die konstruktivistischen Kompositionen, die von ihrer Bildanlage an Werke von Walter Dexel oder Friedrich Vordemberge-Gildewart erinnern, bekommen etwas von der handwerklichen Akribie der großen Avantgardisten, wenn das Grau durch zuviel Licht an den dunklen Stellen ein wenig über den Rand ausbricht oder ein Streifenverlauf nicht ganz gerade ist. Vielen flächig angelegten Kompositionen ist im Unterschied zur glatten Oberfläche vergleichbarer Arbeiten der Op-Art eine samtige Stofflichkeit eigen, die Räumlichkeit suggeriert und die Werke in die Nähe der Farbfeldmalerei rückt, von der Holzhäuser nicht unbeeinflusst geblieben ist. Rupprecht Geiger, Gotthard Graubner, James Turrell und in erster Linie Mark Rothko nennt Holzhäuser als Vorbilder für seine bildliche Auffassung. Diesen Künstlern gelinge es, in ihren "Farbgebilden Gedanken zu fixieren", sowohl die eigenen wie auch die des Betrachters. Vergleicht man Holzhäusers aktuelle Werke mit den mechano-optischen Untersuchungen vom Anfang der 70er Jahre, fällt auf, dass sich beide Werkgruppen im Ergebnis nicht unähnlich sind: Die räumlich gestaffelten Farbgründe verschwimmen in den fotografischen Aufnahmen der frühen Versuchsanordnungen zu unscharfen Farbfeldern, deren ursprüngliche Gegenständlichkeit nur noch zu erahnen ist. Dieselbe Wirkung erzielt Holzhäuser in den jüngsten Arbeiten gewissermaßen in entgegengesetzter Richtung. Die abstrakten Konstruktionen genügen nicht länger sich selbst, sie evozieren Räumlichkeit und Figuration, ohne tatsächlich etwas abzubilden. Holzhäuser lotet die kunstgeschichtlichen Grundbegriffe der Malerei aus, etwa das Verhältnis von Linie und Fläche sowie Farb- und Hell-/Dunkelkontraste. Wenn Gerhard Richter, in dessen Werk Holzhäuser für bestimmte Phasen einen verwandten Ansatz erkennt, nämlich die kontinuierliche Überprüfung der Syntax eines Mediums, mit malerischen Mitteln fotografische Probleme untersucht hat, so könnte man für Holzhäusers Licht-Arbeiten behaupten, in ihnen würden malerische Probleme mit den elementaren Mitteln der Fotografie analysiert [7].

 

"Mich interessiert nur das, was neu in die Welt kommt." [8]

 

Sollen die filigranen all-over-patterns bei Holzhäuser demnach herangezoomte Objekte darstellen, moderne Vorhangfassaden oder mikroskopische Strukturen aus der Botanik oder Elektrotechnik, ist die Assoziation mit Infografiken wie Balkendiagrammen bei den konstruktivistischen Arbeiten völlig falsch? Figuration und Darstellung ist in Kauf genommen, aber nicht beabsichtigt. Ohnehin handelt es sich um Visualisierungseffekte, die für das menschliche Auge in der Regel nicht sichtbar sind oder überhaupt keine reale Entsprechung haben. So entstand 1991 eine Lichtmalerei nach Mozarts Divertimento Nr. 3 in B-Dur, indem Holzhäuser den Lichtpinsel intuitiv zur Musik über das Papier bewegte [9]. Das Ergebnis ähnelt einem Sonagramm, also der technischen Aufzeichnung einer Schallsequenz. Die Verbildlichung der Frequenzen ist rein grafisch, sie entstammt nicht der realen Welt und kann folglich keine abbildende Funktion haben. Holzhäusers Absicht war nicht, ein wissenschaftliches Bildgebungsinstrument zu imitieren, es ging ihm eher darum, einerseits einen Medientransfer durch die visuelle Analogie zum akustischen Original zu erzielen und andererseits die Musik als stimulierendes Mittel in einem kreativen Prozess einzusetzen. Der persönliche Ausdruck ist Holzhäuser aus dem Bereich der Musik vertraut. Als Jazztrompeter weiß er, dass die Partitur das Gerüst eines Stückes sein kann, dass aber wirklich inspirierte Musik mehr verlangt als technische Brillanz und auch durch Improvisation entsteht. Holzhäusers gestische Gestaltung ist vergleichsweise reduziert, trotzdem versucht er, seinem festgelegten und bestimmten Regeln unterworfenen System fotografischer Bildgenerierung möglichst viele Variationen abzuringen und sozusagen eine metaphysische Konstante unterhalb der Ratio aufzuspüren. Das transzendente Moment in vielen Werken des Informel ist in Holzhäusers Lichtmalereien auch zu finden, die künstlerischen Vorstellungen von Pierre Soulages etwa sind Holzhäuser im Grunde nah. Deshalb sind Holzhäusers Lichtmalereien, auch wenn sie beim Betrachter gespeicherte Bilder abrufen, in erster Linie doch in sich abgeschlossene Bildwelten ohne beabsichtigte Bezugspunkte zur realen Welt. Der eigentümliche Bildbegriff von Holzhäusers Lichtmalerei ergibt sich aus dem Zusammenwirken aller bildnerischen Faktoren. Im Spannungsfeld von fototechnischem Herstellungsverfahren, subjektiver Kontrolle und einwirkendem Zufall entstehen Arbeiten, die zwar ihre informationsästhetischen Wurzeln nicht verleugnen, diese Ideen aber so undogmatisch anwenden, dass keine Rede mehr sein kann von einer Verwissenschaftlichung der Ästhetik oder Quantifizierbarkeit der Kunst. In der freien Handhabung der Mittel gestaltet Karl Martin Holzhäuser Bilder, die alle neu in die Welt gekommen sind, auch wenn sie beim Betrachter vielfältige Assoziationen auslösen.

 

[1] Holzhäuser in einem Gespräch mit dem Verfasser am 18.5.2004 in Bielefeld.
[2] Lexikon der Kunst, Bd. 5, München 1996, S. 578.
[3] Dazu Jutta Hülsewig-Johnen: "Die Frage nach der Realität und Eigen-Art des Foto-Bildes wird dann radikalisiert, wenn die Fotografie selbst auf die ihr von Anbeginn ihrer Entstehung zugewiesenen Aufgaben der Abbildung von Außenwelt verzichtet und die Repräsentation eines Motivs nicht mehr als ihr Ziel begreift, - eben dies ist die Essenz einer produzierenden Fotografie." In: "Bildautonomie. Fotos aus neuen Welten", in: Das Foto als autonomes Bild. Experimentelle Gestaltung 1839-1989, hrsg. von Jutta Hülsewig-Johnen, Gottfried Jäger und J. A. Schmoll gen. Eisenwerth, Ausst.-Kat. Kunsthalle Bielefeld und Bayerische Akademie der Schönen Künste, Stuttgart 1989, S. 13. Zur Entwicklungsgeschichte der abstrakten oder besser abstrahierenden Fotografie siehe zuletzt: Die Kunst der abstrakten Fotografie, hrsg. von Gottfried Jäger, Stuttgart 2002; Abstrakte Fotografie, hrsg. von Thomas Kellein und Angela Lampe, Ausst.-Kat., Ostfildern-Ruit 2000.
[4] A. a. O.
[5] Siehe etwa Jörg Boström in: "Lichtmalerei. Neue Arbeiten", im gleichnamigen Ausst.-Katalog, Bielefeld 1990, S. 14: "Es ist gerade diese Verbindung von subjektiver Handschrift und fotochemischem sowie rechnerisch kalkuliertem Prozess, welche seinem Werk die Spannung und unverwechselbare Ausstrahlung gibt."
[6] A. a. O.
[7] Vgl. dazu die Äußerung von Jörg Boström: "Er [Holzhäuser, d. Verf.] ist ein Analytiker und Konstruktivist in dem Sinne, dass er die Möglichkeiten des fotografischen Materials in seine Bestandteile zerlegt und mit diesen Elementen komponiert." Jörg Boström: "Fotobilder aus erster Hand", in: Konkrete Gesten, Ausst.-Kat., Daniel-Pöppelmann-Haus, Herford, Bielefeld 1995, S. 34.
[8] A. a. O.
[9] Abbildung der Arbeit Holzhäusers siehe Ausst.-Kat. Mit der Absicht des Schöpfers hat es höchstens zufällig etwas zu tun, hrsg. von Jörg Boström und Karsten Moll, Daniel-Pöppelmann-Haus, Herford, Bielefeld 1991, S. 29-31.

 

Licht-Bilder

Jutta Hülsewig-Johnen im Gespräch mit Karl Martin Holzhäuser

2004

 

Jutta Hülsewig-Johnen: Alles begann mit einer klassischen fotografischen Lehre. Wollten Sie Fotograf werden? Karl Martin Holzhäuser: Nie im Leben. Aber ich habe meinen Weg in die Kultur, um es mal so auszudrücken, tatsächlich mit einer Lehre als Fotograf begonnen, und zwar in Berlin, im Atelier Steinkopf, das in der Gemäldegalerie in Dahlem für die "Museen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz" arbeitete. Dort wurden alle Reproduktionen für die Museen hergestellt. Wir fotografierten die Exponate im Auftrag der diversen Sammlungen. Da ging es nicht nur um die Gemälde, sondern auch um Skulpturen, um kunsthandwerkliche oder antike Stücke, von denen Fotos angefertigt werden mussten. Ich habe damals von der Pike auf das Fotografen-Handwerk gelernt und bin gleichzeitig sehr intensiv in die Kultur eingetaucht. Für mich war das ein idealer Einstieg. Denn schon immer hatte ich den Wunsch nach künstlerischer oder kultureller Betätigung. In meinem kulturnahen (mein Vater war Baumeister), gutbürgerlichen Elternhaus traf dieser Wunsch aber doch auf eine gewisse Skepsis, mit Blick auf den künftigen Lebensunterhalt: Der Junge sollte zunächst mal was Anständiges lernen! So ergab sich die Fotografen-Lehre im Museum als schöner Kompromiss, der mir auch viel Spaß gemacht hat.

 

JHJ: Das war von 1962 bis '65. Dann ging es gleich akademisch weiter. Darmstadt, Saarbrücken, Hamburg - das sieht nach einer recht eigenwilligen Wahl der Studienorte aus.

 

KMH: Zunächst mal hatte ich mich für Darmstadt entschieden, weil ich zu Kilian Breier wollte. Er war lange Assistent von Otto Steinert gewesen, einem der großen deutschen Fotografen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, mit dessen Namen sich bekanntlich ja vor allem der Begriff der "Subjektiven Fotografie" verbindet. Breier lehrte das Fach "Fotografik" in Darmstadt, einen experimentellen Ansatz in der Fotografie, was meinem Wunsch, die erlernte konventionelle Fotografie, also die abbildende Tätigkeit mit der Kamera, zu überwinden, sehr entgegen kam. Aber Breier wollte mich nicht in seine Klasse aufnehmen, ohne dass ich bei seinem eigenen Lehrer, Oskar Holweck, die Grundlehre durchlaufen hatte. Holweck lehrte seine Studenten, die Wirklichkeit anhand strenger mathematischer Regelsysteme neu zu sehen und im Bild zu konstruieren. Hier ging es nicht um Abbildung, sondern um Bilderfindung. Noch am Gegenstand orientiert, wurde er doch der Abstraktion unterworfen durch arithmetische oder geometrische Systeme, so dass es schließlich nicht mehr um den Gegenstand im Bild ging, sondern um das Prinzip der Bildherstellung nach abstrakten mathematischen Vorgaben. Schließlich ging es um die Anordnung bestimmter geometrischer Grundformen in immer neuen Variationen, die einem bestimmten vorgegebenen Schema folgten. Vielleicht könnte man sagen, dass dies eher mathematische Bilder waren als fotografische. Jedenfalls ging es nicht mehr um Abbildung von etwas vor der Kamera schon Vorhandenem, sondern um die Genese von "neuen" Bildern, die zunächst einmal in Regelsystemen erstellt wurden. Deren Umsetzung führte dann zum Bild. Das Studium bei Holweck in Saarbrücken hatte also die "Normativen Grundlagen künstlerischer Gestaltung" zum Inhalt.

 

JHJ: Danach waren Sie fit für das Aufbau-Studium bei Kilian Breier?

 

KMH: Ja, sozusagen. Nach dem Grundkurs bei Holweck nahm mich Breier in seine Klasse an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg auf. Das Studium trug die Bezeichnung "Visuelle Kommunikation", war für mich aber vor allem auch beeinflusst von der "Normativen Ästhetik" Max Benses, dessen Vorlesungen ich begeistert hörte. Sein Gegenpart damals in Hamburg war Bazon Brock. Es war ungeheuer spannend, beide zu hören, die einander ja meist, schon aus Prinzip, widersprachen. Aber näher war mir zweifellos Bense. Seine Theorie der "Generativen Ästhetik", also die Zurückführbarkeit von ästhetischen Phänomenen auf ein ihnen zugrunde liegendes mathematisch-konstruktives Regelwerk, hat meine Arbeit grundlegend geprägt, bis heute.

 

JHJ: Nach dem Abschluss des Studiums in Hamburg, 1969, folgte der Einstieg in den Beruf, zunächst für ein kurzes Gastspiel in Nürnberg; dann fanden Sie schon Ihren Weg nach Bielefeld. Außerdem begann schon in Hamburg die Arbeit an Ihrem ersten größeren Werkkomplex, den mechano optischen Untersuchungen. Gab es da schon eine Beziehung zu den Bielefelder "generativen Fotografen", die 1968 mit einer Ausstellung an die Öffentlichkeit getreten waren?

 

KMH: Nürnberg war eher ein Umweg nach Bielefeld als ein wirklicher Berufseinstieg. Eine dortige Firma hegte Ambitionen, eine Abteilung für kreative Werbefotografie aufzubauen und lud junge experimentelle Fotografen, direkt von der Hochschule weg ein, nach Nürnberg zu kommen. Allerdings war der Anspruch größer als die Ausdauer. Das ganze Konstrukt kollabierte innerhalb von sechs Wochen. Danach kam ich als art director an die Vogelsänger Studios nach Oerlinghausen-Helpup bei Bielefeld und erhielt wenig später zugleich die Berufung, als nebenberuflicher Dozent an der hiesigen Werkkunstschule zu unterrichten ... JHJ: ... aus der dann die Fachhochschule hervorging, die 1971 gegründet wurde. 1975 erhielten Sie die Ernennung als Professor für Fotografie an der FH Bielefeld, wo Sie gemeinsam mit Gottfried Jäger den heute etablierten "Forschungsschwerpunkt Fotografie und Medien" aufgebaut haben.

 

KMH: Gottfried Jäger lernte ich bald nach meinem Arbeitsbeginn in Bielefeld kennen, allerdings auf einer Ausstellung in Köln, auf der sich verschiedene Hochschulen präsentierten. Wir fanden sofort "einen Draht zueinander", wie man so sagt, und haben bald nicht nur sehr gut zusammen gearbeitet, sondern waren und sind auch gut befreundet. Ihm war mein Lehrauftrag an der Werkkunstschule zu verdanken. Und natürlich wusste ich von Jägers grundlegender Ausstellung "Generative Fotografie", die 1968 die letzte Ausstellung im alten Bielefelder Kunsthaus an der Werther Straße war, bevor es geschlossen und abgerissen wurde und die Kunsthalle ihre Tore öffnete.

 

JHJ: Die Bewegung der "Generativen Fotografie" - in der 1968er Ausstellung in Bielefeld waren Werke von Gottfried Jäger, Hein Gravenhorst, Kilian Breier und dem Belgier Pierre Cordier zu sehen - hatte doch unmittelbaren Bezug auch zu Ihrer Arbeit. Die Entwicklung von fotografischen Bildern nicht als Abbildungen der Wirklichkeit, also eines vorgegebenen Motivs, sondern als (gegenstands-)frei erzeugte, also generierte, Bilder, war in jedem Fall doch ein gemeinsames Anliegen. Ihre schon erwähnten "mechano optischen Untersuchungen" sind ja nichts anderes als generative Fotografie, also ohne motivische Vorgaben erzeugte Bilderreihen nach bestimmten mathematisch-konstruktiven, seriellen Regelsystemen. Nun sind Sie einige Jahre jünger als die "Gründerväter" der Bewegung. Vielleicht sind Sie so etwas wie die zweite Generation der generativen Fotografen?

 

KMH: Vielleicht kann man da gar nicht von einer Generationsfolge sprechen, jedenfalls nicht im Sinne einer Zäsur, denn es kam ja in der Folge zu einer sehr anregenden, gegenseitig wohlwollenden und kritisch begleitenden Zusammenarbeit, vor allem von Jäger und mir. Auch mit Kilian Breier, meinem ehemaligen Lehrer, bin ich gut befreundet. Etliche Projekte und Ausstellungen habe ich mit Jäger gemeinsam bestritten, oft auch unter Beteiligung von Breier und anderen. Jedenfalls fühlte ich mich in dem Kreis der Generativen in Bielefeld sofort zu Hause, verstanden und aufgenommen. Wir haben an einem Strang gezogen ...

 

JHJ: ... was ja, wie Sie eben sagten, nicht nur beruflich galt, sondern auch für die eigene künstlerische Arbeit. Es gab 1978 die gemeinsame Performance "Spielstrategie" in der Kunsthalle zusammen mit Gottfried Jäger und dem Musiker und Komponisten Walter Steffens; es gab 1995 die Gruppe "Animato" (Holzhäuser, Jäger, Andreas Dress in Zusammenarbeit mit Till Jonas, Peter Serocka und anderen), die eine filmische Paraphrase über das Gemälde "Komposition K XVII" aus dem Jahr 1923 von László Moholy-Nagy aus der Sammlung der Kunsthalle erstellt hat. Nach einem am Computer errechneten Programm wurden im Film die Konstruktionselemente des Bildes auseinandergezogen, gespiegelt, gedreht usw., wurde das konstruktivistische Bild also gewissermaßen dekonstruiert und schließlich wieder zusammengefügt. 1999 folgte, wiederum in Zusammenarbeit mit Jäger, die Performance "Color Code", eine "Konzertinstallation" nach Texten von Vilém Vlusser, mit Computeranimation, die an verschiedenen Orten aufgeführt wurde, um nur diese Projekte zu nennen. In Ihrer künstlerischen Arbeit als "Solist", um es mal so zu nennen - Sie stehen ja auch der Musik nah und beziehen sie oft in Ihre Arbeit ein - , folgte auf die seriellen mechano optischen Untersuchungen, die bestimmte Bildparameter in strenger Abfolge gewissen Veränderungen unterwarfen und ihre ästhetische Wirkung überprüften, neben kleineren Werkkomplexen wie der "Aufglasmalerei" (1979) und der "Landschaft" (1982) vor allem die Werkgruppe der "Lichtmalerei", die sich seit 1983 bis heute fortsetzt. Darauf möchte ich jetzt gern zu sprechen kommen, denn auch unsere aktuelle Ausstellung beschäftigt sich ja mit den neuesten Arbeiten aus dieser Werkgruppe, die Sie seit zwanzig Jahren in ihrem Bann hält und bis heute nicht loslässt, also doch nachhaltig fasziniert! Kann das damit zusammenhängen, dass Sie in diesen Bildern sozusagen mit den Urbedingungen von Fotografie umgehen, mit Licht und lichtempfindlichem Papier und sonst nichts?

 

KMH: Ja, damit hat es sicher zu tun. Fotografie als Herstellung von Abbildungen diverser Gegenstände mit Hilfe der Kamera wollte ich nie machen, aber Fotografie als Gestaltung mit Licht ohne jegliche gegenständliche Vorgaben, ganz pur also, interessierte mich schon immer sehr. Das ist das, was ich immer machen wollte, und die "Lichtmalereien", die Luminogramme, also Licht-Zeichnungen, sind so gesehen für mich der kreative Nullpunkt, an dem ich ansetze.

 

JHJ: Es gibt frühe Bildbeispiele aus dieser Werkgruppe, die einen Bewegungsduktus, eine Bogenlinie oder ähnliches, zeigen. Da kann man sich vorstellen, dass diese Bilder aus der Handbewegung entstanden sind, mit der eine Lampe über das Papier geführt wurde. Diese Bewegungsspur hat sich dann auf dem Papier abgebildet. Diese Bilder wirken recht spontan und unmittelbar. Die späteren Arbeiten und auch die aktuellen sind statischer und strenger aufgebaut, sie bestehen aus senkrechten, parallel verlaufenden Streifen, die in Breite, Farbe, Farbdichte, Dunkel- und Helligkeitswerten variieren, zugleich aber durch diese Variationen auch ihren Rhythmus gewinnen, der der Strenge des Aufbaus widerspricht. Ich habe schon in früheren Texten über Ihre Arbeit gelesen, dass Sie diese Lichtmalereien ebenfalls mit einem "Lichtpinsel" ausführen, mittels einer Apparatur, die ihn über das Papier führt. Könnten Sie das noch ein bisschen genauer erläutern? Wie hat man sich diesen Prozess vorzustellen?

 

KMH: Das ist im Grunde technisch ganz einfach. Ich habe in meinem Labor diese Apparatur konstruiert, die ich, dem Prinzip nach, schon länger benutze und inzwischen in ihren Variationsmöglichkeiten sehr verfeinert habe. Dieser sogenannte "Lichtpinsel" ist ein schmaler Kasten, der wie eine verschiebbare Brücke horizontal das Fotopapier überspannt. Er kann an einer vertikalen Schiene entlang von oben nach unten über das Papier geführt werden. Dieser Kasten enthält eine kleine Lichtquelle und unten, also unmittelbar über dem Papier, Löcher, die mit Schiebern geöffnet oder verschlossen werden können. In diesen Kasten kann ich Filterpapierstreifen einlegen, je nachdem, welche Farben ich benutzen will; diese Filterstreifen habe ich selbst hergestellt. Die Filterfarbe muss komplementär zur gewünschten Farbe sein, die in der Entwicklung auf dem Fotopapier entstehen soll. Die Streifenbreite wird durch die Anzahl der Schieber bestimmt, die ich öffne oder schließe. Diese Brücke mit der Lichtquelle und den Öffnungen ziehe ich dann mit der Hand über das Fotopapier. Das muss natürlich in völliger Dunkelheit geschehen. Das Ergebnis sehe ich erst auf dem entwickelten Papier. JHJ: Das heißt, Sie arbeiten während der Bildherstellung gewissermaßen auswendig. Ist die Streifenfolge das Ergebnis spontaner Eingebung? Oder haben Sie das fertige Bild im Kopf, wenn Sie mit der Arbeit beginnen?

 

KMH: Eher letzteres. Ich habe genaue Vorstellungen, wo ich hin will. Die lege ich in ganz unanschaulichen Zahlenreihen fest, die die Abfolge der Schieberöffnungen der Anzahl nach beschreiben. Danach arbeite ich.

 

JHJ: Das heißt, es gibt dieses Zahlengerüst als Konzept des Bildes, die Partitur gewissermaßen, nach der Sie dann spielen. Das Bild beginnt also schon als abstraktes Zahlenkonstrukt, bevor es sinnliche Realität wird. Das erinnert mich immer noch irgendwie an informationstheoretische Aspekte, an Ideen von Bense zum Beispiel. Aber es geht zugleich darüber hinaus.

 

KMH: Da gibt es ohne Zweifel durchgängige Entwicklungslinien in meiner Arbeit.

 

JHJ: Aber diese strenge Konstruktion wird in der Durchführung doch von einem Moment der Spontaneität oder einer gewissen Willkürlichkeit durchkreuzt. Nämlich dann, wenn Sie ja gewissermaßen "freihändig" die Lichtleiste über das Fotopapier ziehen. Da erteilen Sie jedem Konzept eine Absage.

 

KMH: Ja, die Bewegung der Hand ist nicht gelenkt von einem vorgegebenen Konzept oder so, oder sagen wir, sie hat ein Moment des Spontanen. Ich weiß zwar, was ich machen will, aber der Ablauf der Bewegung mit der Lichtleiste ist nie genau im Voraus planbar und auch nicht in einer vorgegebenen Aufstellung fixiert oder so etwas. Es ist ein Bewegungsgestus. Wenn ich einen Augenblick länger auf einem Papierabschnitt verweile, ist die Farbe oder der Schwarz- bzw. Grauton dort intensiver oder tiefer als auf dem Nachbarstreifen zum Beispiel, den ich schneller "überfahren" habe. So entsteht eine Abfolge von hellen und dunklen Partien in jedem Streifen, ein Rhythmus in den Streifen, den ich zwar ungefähr will und in meiner Vorstellung habe, wenn ich mit der Arbeit beginne, den ich aber nicht "unterwegs" kontrollieren kann, denn ich sehe erst wieder das entwickelte Papier, an dem ich nichts mehr ändern kann. Alles vorher liegt im Dunkeln. Diese Handarbeit ist auch körperlich sehr anstrengend. Manchmal verbringe ich etliche Stunden hintereinander im dunklen Labor mit der Arbeit an einem Bild. Alle Handgriffe müssen in völliger Dunkelheit getan werden, weil das lichtempfindliche Papier ja offen auf dem Tisch liegt. Ein falscher Lichtstrahl - und die Arbeit wäre verdorben. Während dieser Zeit kann ich den Zustand des Bildes nicht zwischendrin überprüfen, wie ein Maler das tun kann, wenn er von seiner Staffelei zurücktritt, um das Ganze in den Blick zu nehmen; ich habe meine Partitur auswendig gelernt und folge ihren Angaben. Dann lass' ich mich auch überraschen.

 

JHJ: Also trotz Partitur ist das Ergebnis nicht in allen Einzelheiten vorherbestimmt, es ist abhängig von Ihrer individuellen Interpretation sozusagen, das heißt, vom Gestus der Hand im Moment der Herstellung. Fast könnte man von einer Art "Foto-Tachismus" oder "Foto-Informel" sprechen?

 

KMH: Vielleicht geht es in die Richtung. Ein bisschen was davon.

 

JHJ: Das steht aber doch in einer gewissen Spannung zu den informationstheoretischen Akzenten einer normativen Ästhetik, die anfangs dominierten. Geht die Entwicklung weiter in eine stärker subjektive Richtung und gewinnen die spontanen, nicht formalisierten Aspekte der individuellen Arbeit an Boden? In Ihrer Arbeit haben Sie schon jetzt eine Synthese von Normierung und Individualität, Präzision und Spontaneität, Kalkül und Gestus usw. erreicht. Es kommt mir so vor, als seien die strengen Regeln und Vorgaben nun auch überwunden oder jedenfalls nicht mehr dominant, zugunsten einer freien Virtuosität in der Anwendung der Mittel. Werden Sie auch die Mittel noch überwinden und vielleicht einmal malen?

 

KMH: Ich bin selbst gespannt, was die Zukunft noch bringen wird. Im Moment interessiert mich die Arbeit mit dem fotografischen Ur-Prozess noch sehr, gerade wenn es mir gelingt, ihm Freiheit in der Anwendung abzuringen, die Materialität und Technizität des Vorgehens auf ein Minimum zu reduzieren, um ein unmittelbares Licht-Bild zu erzeugen. Wahrscheinlich ist es diese Arbeit am fotografischen Urgrund, die mich im Moment auch vor allem zum Schwarz-Weißen zieht. Das Schwarz-Weiss ist ursprünglich, der grundlegende fotografische Prozess klingt darin mit, es ist Handwerk und Arbeit an der Basis. Das inspiriert mich zur Zeit sehr, vor allem die Idee, mittels dieses allen Bild-Erscheinungen zugrundeliegenden fotografischen Geschehens auch etwas zu gestalten, das keine Vorgaben hat, kein herkömmliches Motiv. So ist der Prozess selbst auch der Ursprung des Bildes. Das Licht bildet sich auf dem Papier ab, sonst nichts. Es ist reine Licht-Malerei. Aber es ist nicht ausgeschlossen, dass ich auch einmal malen werde. Ich könnte es mir durchaus vorstellen. Die schwarz-weißen "Lichtmalereien" gewinnen ja auch, je nach Intensität der Belichtung und Entwicklung, in dunklen Partien oft wieder eine eigentümliche samtige Stofflichkeit, einen stark grafischen Charakter. Vielleicht erweisen sich die Grenzen als fließend, im Urgrund.

 

Gottfried Jäger

Mit Licht. Zu den Arbeiten von Karl Martin Holzhäusers

August 2004

 

Karl Martin Holzhäuser, Mitglied der internationalen Gruppe "Konkrete Fotografie", hat seit den Anfängen seiner freien künstlerischen Praxis Ende der 1960er Jahre ein bemerkenswert konsistentes Werk geschaffen: In mehreren Werkgruppen weist es ein in sich selbst schlüssiges Konzept nach, das sich folgerichtig und Schritt für Schritt nachvollziehen lässt. Mehrere Ausstellungskataloge und Publikationen belegen das. Sucht man die Wurzeln seiner Kunst, so findet man sie in zwei Kulturen: der Kultur der konkreten, speziell konstruktiven Kunst, der sich Holzhäuser schon in jungen Jahren verbunden fühlte und der Kultur des Mediums Fotografie, besonders seiner experimentell-gestaltenden Tendenz. Dies bildete auch sein Studienfach an den Akademien in Saarbrücken und Hamburg, sowie die Grundlage seiner berufliche Karriere als Hochschullehrer. Nimmt man alles zusammen, so könnte man das Gesamtwerk Holzhäusers bisher als einen bildnerisch überzeugenden Syntheseversuch dieser beiden Kulturen ansehen: Kunst und Technik. Es spiegelt das freie Spiel von Farben, Formen, Raum und Zeit im Apparat eines Mediums, das sich diesen Ambitionen vielfach widersetzt.

 

Konkrete und konstruktive Kunst. Sie wird von dem russischen Maler Wassily Kandinsky 1910 durch sein "Abstraktes Aquarell" erstmals sichtbar formuliert und erhält durch das Manifest der Konkreten Kunst von Theo van Doesburg 1930 begriffliche Gestalt; sie nimmt anschließend ihren Weg über die Schweizer konkreten Maler Max Bill, Richard Paul Lohse und andere in die Welt der Moderne - bis in die Gegenwart hinein, die diese Ansätze allerdings ins Postmoderne und Dekonstruktive wendet, Bewegungen, die die eigene Geschichte und das eigene Konzept in ihren Werken reflektiert, spielerisch und kritisch zugleich. Diesen zuletzt genannten Positionen stand und steht Holzhäuser eher skeptisch gegenüber. Seine Kunst ist durch direkte, unverstellte Anschaulichkeit geprägt, durch die "Generative Ästhetik" des deutschen Philosophen Max Bense, bei dem der junge Holzhäuser eine kurze aber für ihn prägende Zeit zwischen 1966 und 1969 in Hamburg studierte. Bense ging es um die "Programmierung des Schönen", so einer seiner Buchtitel, ein paradigmatischer Ansatz, dessen Auswirkungen wir heute in den Formen der Medien- und Computerkunst für selbstverständlich erachten. Seine Basis ist der Informationsbegriff und dessen Ableitungen, so auch die Generative Ästhetik, die "die methodische Erzeugung ästhetischer Zustände" propagiert, "indem sie diese Erzeugung in endlich viele unterscheidbare und beschreibbare Einzelschritte zerlegt." Damit war erstmals eine griffige Formulierung für die aufkommende computer-generierte Kunst gefunden, die schon kurz darauf alle Künste inspirierte. Kunst war damit digital, also zahlenmäßig, algorithmisch, mathematisch erzeugbar. Ein revolutionärer Gedanke - damals.

 

Er traf den jungen Holzhäuser unvermittelt und führte ihn zu einem Arbeitsansatz, der sich in seinem Werk bis heute findet: Die elementare Gestaltung in serieller Form. Der Produktionsprozess beginnt mit einfachen, elementaren Zeichen (Lichtbündeln, Lichtfarben), die schrittweise mit Hilfe eigens konstruierter Apparate in Zustände höherer Ordnung überführt werden, einem natürlichen Wachstumsprozess vergleichbar. Dabei entstehen komplexe Zeichenstrukturen, die sich "lesen" und insofern rational nachvollziehen lassen. Frühe Arbeiten, so die "Mechano optischen Untersuchungen" von 1965 bis etwa 1972 legen davon ebenso Zeugnis ab wie die Arbeiten der Werkgruppe "Lichtmalerei" (wie sie hier zu sehen sind), die nur noch mit Zeitdaten betitelt sind, wie bei einer Registratur oder dem Dokument in einem Archiv. Schon diese Titel bedeuten eine Absage an jede metaphysische Überhöhung und Verklärung seiner Kunst durch den Künstler selbst. Im Gegenteil: Sie signalisieren Ordnung und Transparenz, die das Kunstwerk vermitteln will. Sie liegen damit auf der Linie der frühen konkreten und konstruktiven Kunst, der daran lag, möglichst Viele am Kunstprozess zu beteiligen und niemanden auszuschließen, ein durch und durch demokratischer Ansatz. Auch in dieser Hinsicht bleibt Holzhäuser der Moderne verbunden, deren Idee er mit seinen Mitteln sichtbar und eindrucksvoll und fortschreibt.

 

Fotografie. Seit den medienbewussten 1970er Jahren spricht man auch vom "Medium Fotografie" als Ausdruck dafür, dass man nun dem Foto über das Abbild hinaus reichende Funktionen zuerkennt. Es hat nicht nur dienende und vermittelnde Aufgaben, sondern ist selbst auch eine Stück "Realität" - Medienrealität. Fotos verändern die Welt, indem sie die Anschauung und Einstellung ihr gegenüber verändern. Insofern schaffen sie auch eine neue Welt: "The Medium is the Massage", so das damalige Credo des kanadischen Soziologen Marshall McLuhan. Diesen schon erweiterten Foto-Rahmen sprengt Holzhäusers Fotografie-Ansatz noch einmal auf, denn er vernachlässigt sowohl die bewährten ikonischen, abbildenden, als auch die symbolischen Eigenschaften des Fotos. Er vernachlässigt also auch die Qualitäten des Fotos als Sinnbild, die es sich im Laufe der Zeit zunehmend erworben hat, denken wir an die Überzeugungsmacht forcierter Werbefotografie. Holzhäuser verfolgt demgegenüber einen "generativen" Ansatz und schließt sich einer Bielefelder Gruppe an, die die Idee bereits 1968 in einer Ausstellung manifestiert. Er inszeniert eine Bildwelt, die es so bis dahin nicht gab, und er verwirklicht die Idee, aus dem Fotoprozess selbst heraus ein Bild der Zeit zu schöpfen. So entstanden seine Ikonen, die latent in seinem Medium zu ruhen schienen - in einem System aus Optik und Chemie, aus Mechanik und technischen Arbeitsabläufen -, bis jemand sie ans Tageslicht hob. Holzhäuser ist auf der ständigen Suche nach diesem latenten Bild der Zeit durch eine Fotografie, die sich nicht damit zufrieden gibt, die Welt, wie sie ist oder wie sie erscheint, abzubilden oder darzustellen. Seine Fotos wollen nicht sichtbar machen, sondern sichtbar sein.

 

Damit geht der Künstler bewusst auf die Wurzeln und Fundamente seines Mediums zurück, er sucht das Elementare in einer Welt, in der das Flüchtige zum Alptraum wird. Frühere Bindungen eines Kunstwerks an Ort und Zeit seiner Entstehung sind durch Reproduzierbarkeit und massenhafte Verbreitung aufgehoben. Die Globalisierung hat hier längst stattgefunden. Fotografie fördert diesen Prozess eher als dass sie ihn stoppt. Aber sie bietet auch die Chance, das Spiel mit zu spielen und dennoch authentische Bilder der Gegenwart zu entwerfen, Zeichen, die dem individuellen und kollektiven Bewusstsein Halt geben. Holzhäusers Arbeit fixiert das Flüchtige auf eigene Art. Er arbeitet im Dunkeln. Aber sein Medium ist das Licht.
Gottfried Jäger
A August 2004

 

Helge Jan Schmodde

Gemälde aus der Dunkelkammer

März 2001

 

In früheren Jahren konnte Karl Martin Holzhäuser (KMH)seine künstlerische und seine akademisch-berufliche Tätigkeit ohne weiteres mit ein und demselben Wort benennen: Fotografie. Dieser Begriff bezeichnet zwar nach wie vor den Stoff, den KMH an der Fachhochschule Bielefeld lehrt, trifft inzwischen aber auf seine Arbeit als Künstler nur noch bedingt zu - lediglich dann wenn man sich der ursprünglichen Bedeutung von "Photographie" erinnert, wie sie im Jahre1839 sinngemäß aufgefasst wurde: als die Kunst oder der Vorgang der Erzeugung von Bildern auf einer chemo-physikalischen geeigneten Substanz mittels strahlender Energie, insbesondere Lichts. Bemerkenswerterweise lässt diese Definition gerade dasjenige Requisit unerwähnt, das wir heutzutage primär mit Fotografie verbinden, nämlich die Kamera - und in eben dieser Hinsicht ist KMH zu den Wurzeln zurückgekehrt: Mit seinen Arbeiten hat er der kameralosen Fotografie ein neues Genre erschlossen.

 

Seine Arbeiten entstehen in der Dunkelkammer: Er setzt fotografisches Papier dem Licht lampenartiger Werkzeuge aus, die er selber konstruiert hat und mit der hand führt - eine Arbeitsweise, die er Lichtmalerei nennt. Diese Bilder sind weder Abbilder noch Deutungen irgendeiner sichtbaren Wirklichkeit, was wir erblicken, dokumentiert vielmehr originäre, sowohl künstlerisch als auch mathematisch einem Programm folgende Variationen der Wirkung geformter weißen oder farbigen Lichts auf Fotopapier - und zwar jeweils in kohärenten Sequenzen, in seriellen "Sätzen".

 

Wie jedes herkömmliche gemalte Bild, so ist auch jedes Produkt der Lichtmalerei dank seiner Entstehungsweise ein Unikat. Ein kardinaler Unterschied zwischen den beiden Arten von Kunstwerken liegt in der Zeitspanne, die für ihre Hervorbringung zur Verfügung steht; KMH muss den manuellen Teil seiner Arbeit in wenigen Sekunden vollbringen. Das erfordert ein ungewöhnlich hohes Maß an konzeptioneller Vorbereitung und auch körperlicher Einstimmung ( etwa wie - in einer ganz anderen Sphäre - der Kunstspringer die Abfolge seiner Salti Schrauben , Streckungen und Beugungen völlig verinnerlicht hat bevor er sie ausführt.

 

Holzhäuser's jüngster Ausstellungskatalog zeigt Lichtmalerei "der dritten Generation" als Synthese zweier früheren Stadien: Anfangs, in den 1980er Jahren, waren seine lichtmalerischen Bildfolgen stark durch einen spontanen emotionalen Duktus geprägt; in einer zweiten Phase unterwarf er dann nicht allein die Formen, die Farben und die Anzahl der Variationen eines Satzes von Bildern einem strengen Kalkül, sondern auch die Bewegungen seiner lichtführenden Hand. Demgegenüber verbindet sich neuerdings die Befolgung von Programmen mit Elementen kalkulierten Zufalls und mit der individuellen, aber bewusst beherrschten Gestik des gestaltenden Künstlers. Die Vorgeschichte dieser Werke reicht bis in die Mitte der 1960er Jahre zurück: damals begegnete KMH bereits während seiner Lehrzeit bei dem namhaften Berliner Museums-Fotografen Walter Steinkopf einem zweiten Mentor- Floris Michael Neusüß, der ihm die Faszination der kameralosen Fotografie mit seinen lebensgroßen Nudogrammen nahe brachte. Es folgten Studienjahre an den Werkkunstschulen Darmstadt und Saarbrücken sowie an der Hochschule für Bildende Künste , Hamburg; Holzhäusers akademische Lehrer waren seinerzeit vor allem Oskar Holweck, Kilian Breier und der Informations- und Ästhetiker Max Bense. Zu sich selbst fand KMH erstmals 1967 mit seinen Mechano Optischen Untersuchungen, die den bilderzeugenden Modalitäten optischer Systeme galten; bald darauf gehörte er zu den Protagonisten der Generativen Fotografie, einer "Grammatik" für die Generierung von Zeichen und visuellen Aussagen durch rein rationale, völlig entpersönlichte Verbindung mechanischer Vorrichtungen mit der Anwendung optischer Methoden. Im Jahr 1970 wurde Holzhäuser an die damaligen Werkkunstschule Bielefeld berufen; seit 1975 hat er im Fachbereich Gestaltung der Fachhochschule Bielefeld eine Professur inne.

 

Ursula Blanchebarbe

Die Gegenwart des Lichts Konzeptuelle Lichtmalerei in neuen Arbeiten von Karl Martin Holzhäuser

Zur Eröffnung der Ausstellung Karl Martin Holzhäuser Lichtmalerei am 13. November 2001 im Haus Oranienstraße 9 - Ausstellungsforum des Siegerlandmuseums

 

Die Aufgabe besteht darin, Systeme zu entwickeln, die durchschaubare und kombinierbare flexible Ordnungen möglich machen. Richard Paul Lohse In: Entwicklungslinien 1943-1984

 

Das Pittoreske sei mehr oder weniger durch das mathematische ersetzt, hat Piet Mondrian gesagt und habe die Richtung der abstrakt-konkreten Kunst gewiesen, die bis heute diesen Weg in unterschiedlicher Weise fortsetzt. Auch wenn der Mitbegründer des Neoplastizismus und des De Stijl vom mathematischen spricht, so ist damit nicht die reine Mathematik gemeint, sondern das Prinzip, die Suche nach "objektiven Gestalt-Möglichkeiten", von denen auch der Schweizer Architekt, Maler, Bildhauer und Designer Max Bill schreibt: "Die mathematische Denkweise in der heutigen Kunst ist nicht die Mathematik selbst. Sie ist die Gestaltung von Rhythmen und Beziehungen, von Gesetzen, die individuellen Ursprung haben, so wie auch die Mathematik ihren Ursprung hat im individuellen Denken der bahnbrechenden Mathematiker."¹ Vielleicht ist der Kreis derjenigen, die sich mit Kunst dieser Ausrichtung auseinandersetzen auch deshalb klein, weil man die Ergebnisse nicht durch den "Bauch" verdauen kann. Konstruktive, konkrete Kunst verlangt neben sinnlicher Offenheit ein hohes Maß an Reflexion und tätiger Mitarbeit des Betrachters, der die vorgegebenen Strukturen, die Systeme und ihre künstlerischen Transformationen mit den eigenen Erfahrungen und Konstruktionen vergleichen und in Beziehung setzen soll.

 

So sind auch die Arbeiten von Karl Martin Holzhäuser anzusiedeln im Dreieck zwischen Wissenschaft, Technologie und Kunst. Holzhäuser ist Forscher und Interpret, Experimentator und Techniker, und er ist es zunächst und vor allem, weil er sich als Künstler begreift. Der Analytiker steht dabei keineswegs im Gegensatz zum Künstler, sondern er schafft die Voraussetzungen für eine Kunst, die nach allgemeinen Wahrnehmungsbedingungen sucht. Die daraus resultierenden objektiven Gestaltungs-Möglichkeiten (Bill) und ihre empirisch -expertimentel wie analytisch - wissenschaftlich gewonnenen Grundlagen schaffen erst die Voraussetzungen für eine allgemeine Verständigung mit dem potentiellen Betrachter. So legt Holzhäuser die Anzahl seiner Formen und die Farben genau fest und mischt Farben mit selbst hergestellten Filtern. Alles geschieht bewusst und geplant und ist dennoch von der Hand des Fotographen, der eine Art Lichtpinsel in Händen hält, abhängig. Voraussetzung sind damit mathematische, nicht ästhetische Gesetzmäßigkeiten. Die ästhetische Wirkung stellt sich als Beiprodukt eines eher puristischen Denkens und Handelns ein. Auch deshalb sind die Arbeiten auf Weiß und Schwarz oder die Farben Blau, Grün und Rot beschränkt. Stereotype Wiederholungen kann es nicht geben, aber Geschlossenheit und Harmonie des Gesamtwerkes, das Flächennetz, die Lineatur, die Farbformen werden immer neuen Farb- und Raum-Ereignissen zugeführt. Die Oberfläche erweitert und konkretisiert sich durch die Lichtbrechungen. Durch die verschiedenen Schichten auf mehreren Ebenen bekommen die Ergebnisse eine geheimnisvolle, nicht präzise auszulotende Räumlichkeit. Der "Pinselstrich" der Fotolampe, das Licht, die Komposition, also die Qualität der einzelnen Teile und ihr Zusammenwirken als Ganzes entscheiden über die Lebendigkeit des Kunstwerks, das als einzelnes Werk, aber auch in Serie anlegt sein kann.

 

Licht ist ein Phänomen, das normalerweise selbst nicht gesehen wird, vielmehr legt es sich auf Gegenstände oder wie im Falle Holzhäuser auf Fotopapier, damit diese formale oder auch farbige Qualitäten mitteilen können. Zentraler Begriff in den Arbeiten ist neben dem Licht der Rhythmus. Aus der Konstellation der Streifen entwickelt sich im Sehprozess ein bestimmter Rhythmus. Die "Geschwindigkeit" der Bild-Rhythmen wird beeinflusst von der Breite der das Bild durchlaufenden Streifen, der Begleitung durch andere Streifenbildungen in Abfolgen und Gruppierungen, durch ihre Kontrastbildung und auch ihre Farbigkeit. Wichtiger als der formale Rhythmus der Bildstreifen ist jedoch die Bewegung des Sehens selbst, die sich an den schwarz-weißen oder auch farbigen Interaktionen und Irritationen entfacht. Kubismus, Konstruktivismus, de Stijl, Bauhaus, abstraction-création sind die klassischen Quellen der Arbeiten von Holzhäuser. Seine Themen sind deshalb konsequenterweise Licht und Farbe, Bewegung und Raum. Die Ergebnisse sind auf den ersten Blick einfach und klar. Man erkennt die Ordnung, die die Beziehungen der Linien und Flächen, der Farben, der Abschnitte und der Ausschnitte regeln. Schwieriger ist es, diese Ordnung in Worte zu fassen und die in der Ordnung angelegte Polyvalenz zu erklären, wenn man einen zweiten Blick auf die Bilder riskiert. Die Bilder werden in sich als strukturierte Einheiten begriffen, die deutlich abgegrenzt sind von dem, was man gemeinhin Wirklichkeit nennt. Es sind Arbeiten ohne Illusion, Suggestion, ohne Anspielung oder Inhaltlichkeit. Die Linie ist gerade, die Formen sind geometrische Konstrukte, gesetzmäßige Figurationen. Jeder Verweis auf die Wirklichkeit außerhalb des Bildes wird getilgt. Reduktion und Konzentration, Präzision und Objektivierung sind die Axiome dieser Kunst, die Methode hat und methodisch die Strukturen ihrer eigenen Wirklichkeit definiert, programmatisch, asketisch, abstinent und distanziert. Leicht geschieht es, dass der Verzicht auf Inhaltlichkeit mit dem Verlust von Inhalt gleich gesetzt wird. Die scheinbar neutralen Linien, Flächen und Formen sind jedoch Relationen innerhalb eines ausgegrenzten Feldes, dessen Struktur und Gefüge sich in seiner scheinbaren Neutralität gegenseitig bedingt und damit vervielfältigt. Die Linien sind positiv und negativ zugleich, sie grenzen ein und grenzen aus, sie geben Richtungen an und heben sie gleichzeitig auf, sie sind innen und außen, sie sind unendlich und begrenzt. Leise verschieben sich Relationen des Gefüges, Flächen treiben auseinander, Formzusammenhänge lösen sich auf, werden unterlaufen und hintertrieben, ohne konterkariert zu werden.

 

Typisch für die experimentellen Ergebnisse ist die Ambivalenz, das Schweben auf der Schwelle zwischen Fläche und Raum. Konkret bezeichnen die Bilder Möglichkeiten, in dem sie als konstruierte Ordnungen präzise Beziehungsgefüge auf der Grenze formulieren, die bei aller Hermetik offen und beziehbar sind, Freiräume eröffnen, die die Möglichkeiten der Wahrnehmung konstruktiv erschließen. "Wir konstruieren, weil Intuition noch immer eine gute Sache ist", hat Josef Albers einmal - in der Umkehrung eines Wortes von Paul Klee - gesagt. Auch Karl Martin Holzhäuser kann sich auf diese Aussage berufen, sind Systematik und Präzision auch für ihn Quellen der Intuition und Inspiration.

 

¹ Zit. nach Schneckenburger, Manfred. Kunst des 20. Jahrhunderts Teil II Skulpturen und Objekte (Hrsg. von Ingo F. Walther), Köln Taschen 2000, Seite 456.

 

Jörg Boström

Holzhäuser Lichtmalerei - Neue Arbeiten

In: Holzhäuser, Lichtmalerei, Neue Arbeiten Katalog zur gleichnamigen Ausstellung Galerie Pin, Bielefeld, 2000/2001

 

Als Karl Martin Holzhäuser seine Lehre als Fotograf begann - 1962-65, schien die Welt der Fotografie und der Kunst noch in alter Ordnung. Der Fotografie war die Erforschung und Darstellung des Sichtbaren vorbehalten, der Malerei die Entwicklung von Formen, Flächen und Strukturen. der Gegenstand sei nicht mehr tragfähig, behauptete Will Grohmann für die bildende Kunst. Der Gegenstand hatte sein Reservat in der Fotografie. Kurz darauf begann der Umbruch, welcher auch das Werk von Holzhäuser bis heute prägte.

 

Die Kunst wurde in zwei Richtungen aufs Neue befragt, demontiert und wieder zusammengefügt. Welche gesellschaftliche Funktion, wenn überhaupt, kann man ihr zumessen? Welche Wirkung haben ihre visuellen Mittel und wie sind sie verwendbar zur Gestaltung bis hinein in die gesellschaftlichen Prozesse? Nicht nur in der Politik der späten 60er Jahre, auch in der Kunst begann das damals sogenannte "Hinterfragen", vom Konzept der Antikunst bis zur Konzeptkunst. Die Fotografie wurde auf der einen Seite zum Instrument derAnalyse und der Einwirkung auf Realität. Auf der anderen Seite wurden ihre technischen Grundlagen im chemischen und optischen Bereich neu erkundet, aufgebrochen und konstruktiv genutzt. Die apparative Seite der Fotografie, der Apparat selbst, wurde zum Objekt der Sektion.

 

Es begannen Künstler wie Floris Neusüss, der noch Holzhäusers Mentor in der Fotolehre war, Oskar Holweck und Kilian Breier, bei welchen er 1966-69 studierte, und Gottfried Jäger, mit welchem er die Richtung der generativen Fotografie formte, die bisherige einvernehmliche Arbeitsteilung zwischen Fotografie als Darstellung der sichtbaren Realität und der Kunst als Forschungsbereich formaler Zusammenhänge zu durchbrechen. Der Schutzzaun um den Gegenstand, welchen die Kunsttheoretiker mit der Fotografie zu errichten versuchten, wurde abgewickelt. Fotografie ohne Kamera betrieb Floris Neusüss mit seinen direkten Körperbelichtungen auf Fotopapier. Oskar Holweck und Kilian Breier waren in ihrer Verbindung zur Düsseldorfer Gruppe Zero an dem Neustart der Kunst vom Punkte 0 - Zero direkt beteiligt, wo Heinz Mack seine Lichter und Spiegelstrukturen aufbaute, Otto Piene sein Lichtballet und seine Feuer- und Rauchbilder inszenierte und Günter Ücker seine Nagelwirbel hämmerte. Vom Urprung ansetzen, Neubegin, weg mit dem mystischen Nebel einer expressiven, in Material und individueller Befindlichkeit ersaufenden Seelenkunst. Hinzu kam ein neuer Glaube an die Realität der Mathematik, wie sie sich in der Informationsästhetik von Abraham Moles und Max Bense, dessen Vorlesungen der Student Karl Martin Holzhäuser an der Hamburger Kunstakademie besuchte. Die Utopie vom ästhetischen Quotienten, die Möglichkeit, endgültig und objektiv, für alle verbindlich den Kunstwert zu messen, zu quantifizieren und numerisch zu bewerten trat auf in Hörsälen und Kongressen. Die Kunst schien be- und errechenbar, lange bevor Computerprogramme begannen, auch das tägliche Leben vom Videorecorder bis zur Waschmaschine zu steuern. Es ist später Holzhäuser wiederum, der in die rationalen Programme seiner bildnerischen Untersuchungen und Generationen das Momentane, Gestische, Subjekte und mithin Irrationale, nicht mehr so ganz Berechenbare wieder einführt, bis hinein in seine letzten Arbeiten, die wie Recheninformationsstreifen auf den ersten Blick wirken und doch in ihrem äthetischen Kern das pulsierendOrganische der individuellen Handschrift sichtbar machen.

 

Der Betrachter wird durch fast nichts auf diesen Bildern an irgendetwas erinnert, das gemeinhin mit dem Begriff Fotografie verbunden ist. Es sind keine Abbildungen oder Interpretationen einer sichtbaren Aussenwelt durch den Fotoapparat, sondern es sind reine Bewegungen farbigen Lichts. Und doch sind diese Arbeiten in einem ganz elementaren Sinne Foto-Grafien, vom griechischen Wort photo graphein abgeleitet, also vom Licht, mit Licht gezeichnete Bilder auf fotografischem Material, "Lichtmalereien". Holzhäuser arbeitet nicht mit der Kamera, sondern mit verschiedenen für seine Zwecke geformten Lampen, Lichtgriffeln, Lichtpinseln. Anders als der Fotograf mit der Kamera, der das Licht, das seine Objekte ausstrahlen, mit der Kamera einfängt, Licht der Sonne oder das künstliche des Studios, der also im Licht arbeitet, finden Holzhäusers Gestaltungsprozesse im Dunklen statt. Er selbst, seine Hand, die Bewegung des Arms, des Zirkels, des ganzen Körpers gelegentlich, schaffen erst die Formen, welche nur der chemische Prozeß der Fotografie sichtbar machen kann.

 

Diese an Punktierungen, Vorhänge, Fahnen, Bänder, Wellen erinnernden Strukturen sind nicht die Gegenstände, als welche sie erscheinen, sie sind ausschließlich Ergebnisse eines fotografischen Prozesses, sie wären ohne den Künstler nicht existent. Sie stellen nichts weiter dar, als sich selbst. Hier spielen Elemente des Action painting ebenso hinein wie die serielle Kunst und die strukturbildenden Prozesse der generativen, das heißt, ihre Bildwelten erst erzeugenden Fotografie. Bei aller vitalen Ausstrahlung haben diese Bilder immer ein durchgreifendes rationales Konzept. Sie unterliegen einem vorab entwickelten Kalkül. Bevor sie sich aus dem Fotopapier herausentwickeln lassen, haben sie ihre erste Existenz, gewissermaßen ihr Negativ, im Kopf des Künstlers. "Wenn ich in meinem Bild bin", sagt der Action Painter Jackson Pollock, "weiß ich nicht was ich tue". Pollock arbeitet instinktiv und bei hellem Tages- oder Atelierlicht. Holzhäuser arbeitet immer im Dunklen, erst in der Entwicklung der Colormaschine wird das Resultat sichtbar. Aber dieser Künstler weiß immer was er tut, er arbeitet geplant. Die Arbeiten folgen erdachten, rationalen Programmen. Sie haben eine in sich geschlossene Logik der Abfolge mit einer aus dem Programm sich ergebenden Anzahl, Farbe, Form usw. Die Kunst unterwirft sich hier der Programmierbarkeit. Ohne sich direkt der Computertechnik zu bedienen, arbeitet sie im gedanklichen Umfeld der Programme, welche die erwartete Kunst aus der Maschine möglich machen - oder auch nicht.

 

Schönheit im Sinne einer geschmackvollen, ansprechenden Farbig-keit ist nicht ihr Ziel. Holzhäuser ist kein Schönfärber Die offensichtlichen ästhetischen Reize seiner Bilder ergeben sich aus dem technischen Prozeß. Wenn hier der Begriff Schönheit noch verwendet werden kann, dann eher im Künstlers. "Wenn ich in meinem Bild bin", sagt der Action Painter Jackson Pollock,"weiß ich nicht was ich tue". Pollock arbeitet instinktiv und bei hellem Tages- oder Atelierlicht. Holzhäuser arbeitet immer im Dunklen, erst in der Entwicklung der Colormaschine wird das Resultat sichtbar. Aber dieser Künstler weiß immer was er tut, er arbeitet geplant. Die Arbeiten folgen erdachten, rationalen Programmen.Sie haben eine in sich geschlossene Logik der Abfolge mit einer aus dem Programm sich ergebenden Anzahl, Farbe, Form usw. Die Kunst unterwirft sich hier der Programmierbarkeit. Ohne sich direkt der Computertechnik zu bedienen, arbeitet sie im gedanklichen Umfeld der Programme, welche die erwartete Kunst aus der Maschine möglich machen - oder auch nicht.

 

Schönheit im Sinne einer geschmackvollen, ansprechenden Farbig-keit ist nicht ihr Ziel. Holzhäuser ist kein Schönfärber Die offensichtlichen ästhetischen Reize seiner Bilder ergeben sich aus dem technischen Prozeß. Wenn hier der Begriff Schönheit noch verwendet werden kann, dann eher im Sinne der Schönheit einer mathematischen Formel oder auch einer technischen Perfektion. Die Farbigkeiten folgen eher der Logik der Spektralfarben des Regenbogens, der fotografischen Grundfarben yellow, cyan und magenta. Sie sind Resultat der gedanklichen Konzeption mehr als des individuellen Ausdrucksverlangens des Künstlers. Wenn sie gelegentlich expressiv wirken, beruht das auf der physiologischen Wirkung von Farbe auf den Betrachter. Holzhäuser ist kein Expressionist. Er ist ein Analytiker und Konstruktivist in dem Sinne, daß er die Möglichkeiten des fotografischen Materials in seine Bestandteile zerlegt und mit diesen Elementen komponiert. Näher als an der anteilnehmenden Abbildung oder der Darstellung von Gefühlen ist seine Kunst der konstruierenden, Klangfiguren fortentwickelnden seriellen Musik.

 

Die Arbeiten der letzten Jahre zeigen ein weiteres Kontrastprogramm, indem der strengen, kalkulierten Gesetzmäßigkeit der seriellen Bildproduktion ein kalkulierter Zufall in die Parade fährt und mit den rationalen Programmen ein neues, sinnliches Spiel treibt. So ist ein Kreis zwar sauber gezirkelt, aber seine Ränder brechen auf, so ist eine Wellenbewegung zwar geplant, aber die pulsierenden Nerven und der Takt des Pulses der bewegenden Hand schaffen organische Irritationen, die apparative Bilderzeugung wird ergänzt und immer stärker verdrängt durch die körperhafte Gestaltung, durch die Handschrift im Wortsinne, durch die Bewegungsspur. Damit wird der Körper des Künstlers selbst zum Instrument, analog aber nicht identisch der Pinselschrift des tachistischen Malers. Blitzartige Bewegungen einer neuen, willkürlichen Lust bringen im technischen Medium Organisches ins Spiel, und einen Schuß Improvisation, vergleichbar der Kadenz in der klassischen Musik. Karl Martin Holzhäuser, der selbst leidenschaftlich Trompete spielt, klassischen Jazz im New Orleans Stil, gerät in Bildern und Tönen immer mehr in die freie musikalische Bewegung des Free Jazz.

 

Zwischen Rationalität, Konzept, Programm, zwischen Technik und Improvisation sind seine Bilder ein sinnlich anschaubares Gleichnis für die Behauptung und Entwicklung von Befreiungsbewegungen in den Zwängen, die uns umstellen. Es wird etwas sichtbar von der "Freiheit am Bande der Notwendigkeit", wenn es erlaubt ist, in Verbindung mit solchen Arbeiten einen Idealisten wie Friedrich Schiller zu zitiren. Karl Martin Holzhäuser denkt und gestaltet in und mit Programmen. Die Programmiersprache bestimmt in heute fast allen Bereichen der Technik und des täglichen Lebens Struktur und Inhalt, ohne dass wir es ins Bewusstsein nehmen. Die Kunst schien ein Bereich, in dem elektronische Technik und Informatik noch zugunsten eines am individuellen Erleben orientierten Gestaltens ausgesperrt waren. Auch Holzhäusers neue Arbeiten durchlöchern diese Abschirmung. Wie in seinen frühen Serien der mechano optischen Untersuchungen geht er wie mit mathematischer Reihenuntersuchung die möglichen Varianten einer Streifenkomposition durch, die an die ablesbare Information von Computerdaten erinnern, wie wir sie aus den Preisklebezetteln in Kaufhäusern kennen. Wir können sie nicht entziffern, wohl aber der Laserstrahl in der Hand der Kassiererin.

 

Holzhäuser bringt die uns steuernde - um nicht zu sagen beherrschende-Struktur der Digitalisierung des Alltags in die Zone des Gestalterischen, des ästhetischen, des Sinnlichen. Dabei verbinden sich, wie bei fast allen seinen Arbeiten, die automatischen Abläufe technischer Prozesse mit den subjektiven, intuitiven Bewegungen von Hand und Arm. Es ist gerade diese Verbindung von subjektiver Handschrift und fotochemischem sowie rechnerisch kalkuliertem Prozess, welche seinem Werk die Spannung und unverwechselbare Ausstrahlung gibt. Entsprechend der fotografischen Technik im Labor, wo Farben und Formen entstehen aufgrund von Lichteinwirkungen, die einen chemischen Prozess auslösen, müssen diese Bildserien einem Plan folgen. Die Resultate entwickeln sich zeitlich getrennt von der manuellen und technischen Arbeit. Die Bilder erscheinen immer als Ergebnis einer kalkulierten Programmierung. Bei den in diesem Katalog vorliegenden Bildserien wird ein System vertikaler Streifen zugrunde gelegt, das in seiner Abfolge numerischen Vorgaben folgt. Diese bilden das rationale Gerüst, welches den Bildfolgen ihre programmatische Struktur gibt. Die Streifen in ihrer Folge jedoch werden nun mit von Hand in persönlicher Diktion geführten Farbabstufungen moduliert, mit dem von Holzhäuser entwickelten und auch vorher vielfach verwendetem Lichtpinsel. Hier ist er ganz Maler in der ursprünglichen, handwerklichen Bedeutung des Wortes. Das Wechselspiel an den Schnittstellen der Bildstreifen wiederum erzeugt den Eindruck einer mathematisierten Natur - wie umgekehrt im Werk Holzhäusers von einer subjektiven, organischen Aneignung des rationalen, digitalisierten Wesens unserer Zivilisation gesprochen werden kann. Es entstehen individuelle und zugleich geometrische Figurationen, die an einen Strichcode erinnern, ein Code allerdingsmit einer zuletzt tief persönlichen, nicht mehr digital entschlüsselbaren Botschaft. Es findet hier im Bereich der bildenden Kunst wiederum eine Aneignung der Realität statt, eine Aneignung von Abläufen und Programmierungen aus der Welt der Informationstechnologie. Auffallend sind die den vertikalen Streifengittern horizontal entgegenströmenden organisch wirken-den Wellenbewegungen. Es sind dies die von freien Handbewegungen rhytmisierten Tonfolgen. So liegt dem senk-recht stehenden, nach mathematischen, rationalen Vorgaben gegliedertem Kunstrukt die horizontal schwingende, gewissermassen frei musikalisch improvisierende Bildgeneration zugrunde. Sie durchdringt die starre Formation und lässt sie vibrieren. Bei einer weiteren Serie von Bildern -es sind alles Unikate aufgrund ihres singulären, in dieser Form nicht wiederholbaren Arbeitsprozesses -, liegen handbemalte Negativstrukturen zugrunde, die wiederum mit der geometrisch-numerischen Vertikalstruktur ihr Wellenspiel treiben. Bei den bisher letzten Arbeiten im September/ Oktober 2000 greift Holzhäuser zudem zurück auf die klassische grafische Wirkung von Schwarz und Weiss in seinen Abstufungen. Wieder ist es sein Licht-pinsel, welcher hier auf Fotopapier schwarz-weiss modellierend einwirkt - im subjektiven Duktus der Hand. Dabei geraten durch numerisch kalkulierte Verschiebung der Streifenfolge die Hell-Dunkel-Nuancen wie Wellen aneinander, als hätte man ein Meer zunächst zum Stillstand gebracht, mit der Kettensäge in schmale Streifen zerschnitten und diese wiederum präzise aneinandergefügt. Wieder ist es die Spannung zwischen organischen Abläufen und technischen, eben wieder Mechano optischen Montagen, welche diese Bildserie auszeichnet. Die großen Bildformate tragen nun weiterhin dazu bei, auch diese Arbeit weniger dem intimen Bereich von Fotografik als dem sich an Wänden präsentiere den Umfeld der bildenden Kunst zuzuordnen.

 

Karl Martin Holzhäuser bleibt auch hier der Maler mit Licht.

 

Jörg Boström, Lansen, Oktober 2000

 

Gudrun Scholz

Wer fotografiert ? Eine Verbindung von Karl Martin Holzhäuser zu seinen Fotoarbeiten

 

Eröffnungsrede zur Ausstellung "Karl Martin Holzhäuser - Konkrete Gesten" Kunst- und Kulturverein Melle, 19.3.98

 

1. Was Sie hier sehen, hätte Max Bense, der Begründer der Materialen Ästhetik in den 60er Jahren, so formuliert. Es handelt sich bei diesen Arbeiten um normales fotografisches Papier, auf dem Lichtspuren durch chromogene Entwicklung sichtbar gemacht werden. Oder es handelt sich, noch einfacher, um Fotopapier in den Maßen 50 x 50 - 120 x 120 und 3 Farbschichten, yellow, cyan, magenta. Mehr nicht. Allerdings schon noch etwas mehr. Aber das Entscheidende war, dass sich die Materiale Ästhetik, wie der Begriff sagt, mit dem Material der Kunst beschäftigt hat, mit der Leinwand plus Ö1 oder dem Papier plus Farbschichten und davon ausgehend einen ästhetischen Wert - das ist das etwas Mehr - errechnet hat. In der Makroästhetik war das der Quotient Ordnungselemente durch Komplexitätselemente - kurz O / C -, um so, wie Bense sagte, die subjektiven Interpretations-ästhetiken abzulösen und das ehemals Schöne, das in der Geschichte der Kunst einen hohen Wert darstellt, durch einen mathematisch ästhetischen Wert zu präsentieren und zu ersetzen.

 

Basierend auf dieser Ästhetik hat sich seit 68 die Generative Fotografie entwickelt, zu der u.a. Gottfried Jäger, Kilian Breier, und K.M.H. zählen. Die Generative Fotografie arbeitet mit einem rationalen Konzept, geht von der Erzeugbarkeit von Kunst, dem Herstellen, dem Machen aus - das ist das Generieren - mit Hilfe eines angebbaren und geplanten Programms. Die gedankliche oder strukturelle Nähe zum Computer ist dabei unübersehbar und beabsichtigt.

 

2. K.M.H. macht seit 1986 diese Arbeiten, von denen Sie hier eine Auswahl sehen. Er versteht sie weiter als generativ. Ich denke, allerdings, es hat sich bei diesen Arbeiten einiges geändert. Und es hat sich auch in der Theorie vieles geändert.

 

3. KMH. hat mich gebeten, eine kurze Einführung zu seinen hier ausgestellten Arbeiten zu geben. Das will ich gern tun. Und dabei möchte ich berücksichtigen, dass es hier heute abend - und dabei verlasse ich schon die Materiale Ästhetik - sehr verschiedene Blicke gibt, die Sie mitbringen, - dass jeder von Ihnen jeweils seinen, ihren Blick hat zu dem, was er, was sie hier sieht. Und das ist auch gut so. Denn die Frage, welches der richtige Blick, also auch der richtige interpretatorische Blick ist - das formuliert ja inzwischen auch die Theorie -, ist so nicht zu beantworten.

 

In jedem Fall arbeitet der Fotograf - ich denke da hat Tucholksy immer noch recht - nicht dafür, dass vor allem die Fachwelt darüber diskutieren kann, ob der Fotograf das richtige Papier gewählt hat, ob die richtige Verteilung auf der Fläche besteht oder ob das cyan doch etwas zu dunkel ist. Sondern - und ich denke, das gilt auch für KMH. selber - er hat diese Arbeiten gemacht, damit Sie - und ich gehe davon aus, dass hier nicht nur Fotografen stehen - daß Sie davon etwas mitnehmen, haben, erkennen und auch fühlen.

 

4. Theorie - und dafür stehe ich hier - dient dazu, 1. Regeln, Gesetze aufzustellen. Das will ich her nicht tun. Theorie dient 2. dazu, Interpretationen zu liefern, zu klassifizieren, einzuordnen.

 

Bemerkenswert bei Interpretationen ist - und das trifft auch im Alltag zu -, denn nicht nur die Theorie interpretiert, sondern wir interpretieren auch im Alltag, den ganzen Tag. Bemerkenswert bei Interpretationen ist, d.h., wenn wir interpretieren, wir vergleichen, d.h. wir führen das Neue, das für uns Neue auf etwas Bekanntes oder noch deutlicher Etwas Altes zurück. Oder das, was wir sehen, haben wir schon gesehen. Wenn wir etwas sehen, sehen wir es nicht das erste Mal, sondern verbinden das Neue - die Innovation - mit dem uns Bekannten.

 

Und so sind auch diese Arbeiten KMH. hier mit Begriffen, Stilrichtungen aus der Kunstgeschichte beschrieben worden. Seine Arbeiten haben, was das Minimalistische und was die Thematisierung des Lichts angeht, etwas oder mehr mit der Zero-Gruppe gemeinsam.

 

Oder der Herstellungsprozeß seiner Fotos, auch der Titel der Ausstellung - Konkrete Gesten - läßt sich gleich mit 3 Richtungen verbinden. Mit der Konkreten Kunst eines van Doesburg, der zur Stijl-Richtung zählte und der die abstrakte Kunst, abstrakte Linien und Farben, als genauso konkret verstanden hat, wie die realistische Kunst, die Abbildung einer Kuh auf der Wiese oder einer Rose in einer Kristallvase. Das war das konkrete Konzept von van Doesburg, das andere Künstler, so Max Bill später übernommen haben.

 

Was die Gesten, das Gestische dieser Fotoarbeiten hier, angeht, haben Autoren auf das Informel hingewiesen. Oder auf die Prozeßkunst, z.B. das Action Painting eines Jackson Pollock. Auch KMH. ist, wie J. Pollock, nicht außerhalb seiner Bilder. Sondern auch er ist konkret in diesen Bildern.

 

Sie sehen also, auch die Kunstgeschichte führt Arbeiten auf Vorläufer zurück, Stilmittel anderer, zeigt Verwandtschaften mit anderen Richtungen auf. Und, wie ich schon angedeutet habe, auch wir sind nicht in der Lage, das Neue als Neues zu sehen, sondern führen dies immer auf etwas Altes zurück. Statt einfach zu sehen, Bilder wirken zu lassen, vergleichen wir, erklären wir, ordnen visuell ein und zu.

 

5. Ich möchte hier nichts - oder fast nichts - erklären, auch nicht aus der Fototheorie. Abgesehen davon ist mein Spezialgebiet nicht die Fototheorie, obwohl ich in den vielen Jahren, in denen ich mit KMH. an der FH Bielefeld in gemeinsamen Seminaren zusammenarbeite, sehr viel von ihm profitiert habe

 

Was ich hier machen will - in den nächsten 5 Minuten- ist, Fragen zu stellen - und sie nicht gleich wieder eindeutig zu beantworten - und Anstöße zu geben, bei denen ich hoffe, daß Sie davon profitieren.

 

6. Das, was sie hier sehen, sind keine Auftragsarbeiten, sondern freie Arbeiten. Große Fotografen, Man Ray, Erwin Blumenfeld, haben ihr ganzes Leben große Probleme mit Auftragsarbeiten oder besser mit den Auftraggebern gehabt, vor allem den Art Direktoren in den Magazinen. Das, was Sie hier sehen, ist

 

1. in freier Zeit geschehen und 2. aus eigenen Bedürfnissen, Vorstellungen, Motivationen heraus.

 

7. Wir konzentrieren uns in der Kunst, auch in der Fotografie in der Regel auf das Was, die Arbeiten, die Objekte, auf das, was fotografiert wird. Und es wird zu wenig danach gefragt, wer fotografiert, wer das Bild macht. Das ist unser westlichen Kultur eigen - einschließlich der Politik - zu trennen zwischen der Arbeit einerseits und der Person andererseits. Also in diesem Fall zwischen dem Foto und dem Künstler zu trennen. Ich denke aber, dass es sehr wohl Verbindungen gibt. Ich sprach von Bedürfnissen, Motivationen. Dass es aufschlußreich ist, nach Verbindungen zu fragen - zwischen dem Künstler und seiner Arbeit. Dabei geht es nicht wie in unseren Talkshows oder in der yellow press darum, im Privaten herumzugraben oder spektakuläre Intimitäten und Sexualitäten zum Thema zu machen. Sondern bei den Bildern, auch bei diesen hier, nicht nur nach dem Was, das an der Wand hängt, zu fragen, sondern zu fragen, welche Verbindungen zwischen der Person KMH. und seiner Arbeit bestehen. Dies zeigt sich bei Künstlern z.B. im Lebenslauf. Und ich denke, es gibt auch bei KMH. einen Zusammenhang, auf den ich am Ende komme. Und der liegt bei ihm in den Gesten, bei der Frage, wo kommen die möglicherweise her.

 

8. Das Grundgefühl des Fotografen - so noch einmal Tucholsky - offenbart sich in seiner Stoffwahl. Welches ist KMH. Stoff ? Sein Stoff ist das Licht selbst, aus dem, die Fotografie, wie Sie ja wissen, elementar besteht. Jedes Foto - so das griechische Wort - ist mit Licht gezeichnet, mehr nicht. KMH. reduziert sich - und das verbindet ihn mit Zero - auf das Letzte der Fotografie. Die Fotos sagen nichts anderes als: Das ist Licht. Für KMH. ist es ein archaisches Thema. Und jetzt kommt die Erklärung dazu: Es sind Luminogramme - also kameralose Fotografie -, Luminogramme, die mit Licht auf Positivmaterial gezeichnet sind. D.h. seine Fotos sagen noch etwas zweites: Das sind Bewegungen, die ich mit dem Licht mache.

 

9. Und jetzt erlaube ich mir doch noch eine Bewertung der Arbeiten. Sie bewegen sich zwischen Konzeptioneller Fotografie und Gestischer Fotografie.

 

Das Konzeptionelle besteht darin - und darin sind seine Arbeiten weiterhin generiert - , dass sie mit einem Programm arbeiten. Sie sind also geplant erzeugt. Das Programm liegt in der Farbigkeit. Das Programm ist allerdings kein Programm einer Maschine, sondern von KMH. formuliert - durch Farbfilter und Farbflüssigkeiten.

 

Die Werkzeuge sind einfach. KMH. macht daraus keinen Hehl. Es sind einfache Taschenlampen, aber auch komplizierte Leuchten mit vorgesetzten Farbfiltern, die die farbigen Lichtspuren erzeugen. Die Programme sind zwar geplant. Aber sie arbeiten - Gott sei Dank - technisch nicht so präzis, wie das Programm einer Funkuhr. So dass wir hier nicht die Qualität von Computergrafiken vor uns haben. Sondern, technisch gesehen, Unvollkommenheiten - die Farben laufen eben nicht gleichmäßig. Unvollkommenheiten, technisch gesehen, zu denen Tristan Tzara in den 20e m formulierte, dass die menschliche Unvollkommenheit doch ernsthaftere Qualitäten zu haben scheint als die Exaktheit der Maschinen. Das Programm geht hier also nur bis zu einer gewissen Grenze. Es sind in jedem Fall persönliche Programme, die in der Hand des Künstlers liegen.

 

10. Und damit kommen wir zum zweiten Aspekt seiner Arbeiten - der Gestischen Fotografie. Und in diesen Gesten ist KMH. auch konkret in seinen Bilde m. Es sind seine Gesten - Gesten mit der Hand und mit dem Körper. Denn die Leuchten sind z.T. schwer. Es sind eingeübte, geprobte Bewegungen, die abgestimmt sein müssen, weil es sich z.T um synchrone Gesten handelt. Oder die Bewegungen müssen präzis abgestimmt sein, weil sie hintereinander auf dem Papier ablaufen.

 

11. KMH., wie gesagt, macht aus dem Herstellungsprozeß kein Geheimnis. Dies zeigt seine Herkunft - die Generative Fotografie, das Machen, das Erzeugen. Ich denke allerdings, dass der Herstellungsprozeß - von dem sich KMH.wünscht, dass der Betrachter, die Betrachterin dazu Entdeckungen macht - ich denke, der Herstellungsprozeß ist nur die eine Hälfte.

 

12. Nicht nur das Licht ist elementar. Es gibt noch etwas anderes sehr Elementares in seinen Bildern. Und hier besteht eine Verbindung zu der Person KMH., die ich vorhin angedeutet habe. Er spielt ausgezeichnet Trompete, allerdings habe ich dies leider immer noch nicht selbst gehört.

 

Jede Bewegung, ob akustisch oder visuell, ist aus einem Rhythmus aufgebaut. Und so sind auch diese Lichtspuren in rhythmische Strukturen und Muster zerlegt. Ich denke, der Rhythmus ist für diese Bilder wesentlich - gleichmäßige Rhythmen, die z.B. Lichtspuren in immer kleinere Einheiten zerlegen. Oder dynamische Rhythmen, die freien Improvisationen vergleichbar sind. D.h. die Rhythmen seiner Gestischen Fotografie sind strukturell mit der Musik zu vergleichen, sie haben strukturell mit Musik zu tun, möglicherweise mit der, die Holzhäuser selbst spielt. Diese Konkreten Gesten sind also nicht nur visuelle Rhythmen.

 

13. Zum Schluß will ich Ihnen noch etwas vorschlagen, weil die Arbeiten sehr elementar sind. Und dies stammt von Roland Barthes aus seiner "Hellen Kammer". Barthes hat in diesem Buch eine sehr subjektive Fototheorie vorgelegt, ist dabei allerdings von völlig anderen Fotos ausgegangen. Nur das, was er über die Wirkung von Fotografie schreibt, läßt sich auch auf diese Gestische Fotografie anwenden. Zitat: "Das Foto rührt mich an" - und darum geht es Barthes in seinem Buch, keine inhaltliche Diskusssion zu führen oder über die jeweilige Ikonografie der Fotos nachzudenken, sondern nachzuforschen, warum einige Bilder, wie er sagt, ihn anrühren, die Aufmerksamkeit auf sich lenken, ins Bild ziehen.

 

Also noch einmal: "Das Foto rührt mich an, wenn ich es aus seinem üblichen Blabla entferne: Technik, Realität, Reportage, Kunst und so weiter: nichts sagen, die Augen schließen, das Detail von allein ins affektive Bewußtsein aufsteigen lassen."

 

Ich denke, Sie erkennen etwas von dem Wert dieser Arbeiten, wenn sie sich davor stellen und einfach die Augen schließen. Betrachten sie die Bilder, indem Sie einfach die Augen schließen.

 

Andreas Beaugrand

Karl Martin Holzhäuser Licht-Punkt-Serie 1

 

In: Laszlo Moholy-Nagy Idee und Wirkung Anklänge an sein Werk in der zeitgenössischen Kunst Ausstellung in der Kunsthalle Bielefeld, 1995 Katalog: Kerber Verlag, Bielefeld, 1995

 

"Keine Kunst ist ohne Proportion zustande gekommen; die Proportion aber besteht in einer Zahl; folglich kommt Kunst durch eine Zahl zustande. ... Allgemein gesagt ist jede Kunst ein System von Wahrnehmungen, das System aber ist eine Zahl." Sextus Empiricus (200 - 250 n. Chr.)

 

Karl Martin Holzhäuser gehört nach Kilian Breier, Pierre Cordier, Hein Gravenhorst und Gottfried Jäger mit Manfred P. Kage, Rolf H. Krauss, Floris M. Neusüss, Albrecht Zipfel und anderen zur zweiten Generation Generativer Fotografen, die exakt, analytisch, konstruktivistisch und unter mathematischen Voraussetzungen arbeiten und dadurch kreative, freie und künstlerische Ergebnisse erzielen. In gewisser Weise arbeitet Karl Martin Holzhäuser damit in Anlehnung an die Kunstauffassung des griechischen Arztes Sextus Empiricus, eines der Hauptvertreter des Skeptizismus, einer ethischen Richtung der griechischen Philopsophie. Die Grundlagen und Voraussetzungen der Generativen Fotografie ebenso wie der Arbeiten Karl Martin Holzhäusers sind strukturelle Vorgaben, vorab festgelegte Zahlen und Zeiträume; methodische Systeme, aus denen Bilder entstehen, die der Sinneswahrnehmung keine sichere Erkenntnis mehr vermitteln können, da sie vielfach täuschen und bei verschiedenen Menschen unterschiedliche Wahrnehmungen ermöglichen. Der reale Gegenstand ist aus den Arbeiten verschwunden. Gegenstand ist die Bildstruktur selbst, erzeugt durch bildimmanente Regeln und Grammatiken.

 

Seit den ausgehenden 1960er Jahren folgt die moderne Gesellschaft immer mehr und zunehmend unreflektiert der Quantität belangloser und bedeutungsloser Bilder, die nur Abbilder einer scheinbaren Wirklichkeit sind. Als Gegenpol zu dieser Inflation der Bilder und in Verbindung mit den gesellschaftsverändernden Strömungen, die auch zur "68er Revolte" führten, entstand - ebenfalls 1968 - in Bielefeld die Generative Fotografie, deren Intention insbesondere darin liegt, einem (fotografischen) Bild eine reale Gültigkeit zu geben, ohne daß es etwas abbildet: Es geht um das Bild als einen autonomen Gegenstand.

 

Innerhalb der fotografischen Szene der 1960er Jahre wurde Inhalt und Aufgabe der Fotografie zwischen der "subjektiven fotografie" nach Otto Steinert und der "Totalen Photographie" nach Karl Pawek diskutiert, die die Entwicklung der Generativen Fotografie wesentlich geprägt und mitbestimmt haben: Steinert war - kurz gefaßt - der Überzeugung, daß der Mensch mit Hilfe der Kamera kreativ gestalte. Pawek vertrat die Auffassung, daß der Apparat im Mittelpunkt der Fotografie stünde und leugnete damit ihren Kunstanspruch. Die Generative Fotografie entstand als "äußerste Absage an beide" (Gottfried Jäger ) und entwickelte sich seitdem zu einer eigenständigen künstlerischen Disziplin zwischen Fotografie und Bildender Kunst. Der Generativen Fotografie geht es darum, die Welt des Technischen, der Rationalität, in die Welt des Geistes zu übertragen und sie wahrnehmbar zu machen.

 

Im Sinne des Nestors der Generativen Fotografie, Herbert W. Franke, verbinden sich in dieser Kunstform zwei Kulturen - Technik und Naturwissenschaften auf der einen, Kunst und Philosophie auf der anderen Seite.

 

Karl Martin Holzhäuser schafft durch seine generativen Arbeiten eine eigentümliche technische Ästhetik und ordnet dem Technischen und Rationalen Emotionalität und sogar Schönheit zu. Die neuen, 1995 entstandenen Arbeiten erinnern formal an seine Untersuchungen aus den 1960er Jahren und besonders an die "Mechano-optische Untersuchung" der Serie 3 aus dem Jahr 1969. Nach 30 Jahren generativer Arbeit entsteht damit inhaltlich wie methodisch eine Synthese aus der von Karl Martin Holzhäuser entwickelten "Lichtmalerei" und einer neuen Anwendung generativer Arbeitstechnik: Holzhäuser erzeugt seine Farben durch transparente Filter, die jedoch nicht mehr - wie bei den früheren Lichtmalereien - auf dem von ihm so bezeichneten "Lichtpinsel", mit dem er auf dem Fotopapier "malt", befestigt, sondern an einer stationären, glimmenden Lampe angebracht werden. Die neuen Filter entstehen zudem aus einer Kombination von selbstentwickelten, auf Folie aufgetragenen Eiweißlasurfarben, die mit einem Sprühkleber auf handelsüblichen Filtern befestigt werden. Der auf diese Weise erzielte Farbton muß komplementär zur im fotografischen Bild erscheinenden Farbe sein, da er das Farbpapier direkt belichtet. Durch eine feststehende, jedoch während der langen Belichtungszeit leicht vibrierende Glühlampe entstehen durch mehrfache Brechung des Lichtes - das zwei Folien und die Sprühkleberschicht zu durchdringen hat -, und durch die von Holzhäuser vor der Belichtung, d.h. bei der Anfertigung der Farbfilter vorgenommenen Modifikationen der Itten'schen Farblehre, unscharfe, schwebend wirkende Punkte auf einer diffus erscheinenden Farbfläche.

 

Damit kommt Karl Martin Holzhäuser - gewissermaßen durch einen Stillstand während der Lichtmalerei - einerseits auf elementare Urformen der Lumino- bzw. Fotogramme nach Laszlo Moholy-Nagy zurück, andererseits aber betont er die "abgebildete" Farbigkeit als solche. Nach der Beschränkung auf die drei optischen Primärfarben Blau, Grün und Rot kombiniert Holzhäuser nun das gesamte Farbspektrum, analytisch durchdacht. Es entstehen keine Mischfarben, sondern Farblasuren, die mit anderen Maltechniken nicht zu erreichen sind. Ihn interessieren Probleme der Farbigkeit, die Rhythmik und der Aufbau der Farbe, die trotz genauester Testreihen durch einen Rest an ungewolltem Einfluß oder - im Sinne des Informel - durch einen "gesteuerten Zufall" entstanden sind.

 

Die so ohne jede Gegenständlichkeit wahrzunehmenden Bildmotive wirken auf die Betrachter auf eigentümliche Weise bedrohlich, je nach Farbwahl sogar aggressiv. Farbe scheint aus den Bildern herauszuwallen, sie scheint sich vor- und zurückzubewegen. Sie erinnern - sucht man nach einer Analogie - an Darstellungen einer Sonnenfinsternis oder der Iris des menschlichen Auges. Die neue "Licht-Punkt-Serie 1" von Karl Martin Holzhäuser erzielt darüber hinaus eine ähnliche Wirkung wie die Arbeiten von Mark Rothko aus den späten 1950er und frühen 1960er Jahren, die "Abstract Paintings" von Ad Reinhard aus den 1950er Jahren, die Schwarz-Weiß-Bilder Ellsworth Kellys aus den frühen 1950er Jahren oder auch an manche der jüngsten Ölbilder des Berliner Konstruktivisten Frank Badur und sind auf diese Weise als abstrakte, geometrisch-abstrakte, konstruktivistische und konkrete Kunst ebenfalls eine Annäherung an geistige und spirituelle Fragen der menschlichen Existenz.

 

Andreas Beaugrand 8/1995 ______________________________ 1) Sextus Empirikus,"Adversus mathematici", zitiert nach W.Tatarkiewicz, Geschichte der Ästhetik, Bd.2, Basel/Stuttgart 1979, S.112.
2) Vgl. Andreas Beaugrand (Hg.), Gottfried Jäger, "Schnittstelle. Generative Arbeiten", Bielefeld 1994,S.8.
3) Vgl. Herbert W. Franke, "Kunst und Konstruktion. Physik und Mathematik als fotografisches Experiment", München 1957.
4) Vgl. beispielsweise Ausstellung und Katalog "Karl Martin Holzhäuser, Blau/Grün/Rot", Bielefelder Kunstverein,26.1.-10.03.1991

 

Jörg Boström:

Fotobilder aus erster Hand

In: Karl Martin Holzhäuser Konkrete Gesten - Lichtmalerei zwischen Konstruktion und Informel Kerber Verlag Bielefeld, 1995 Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Daniel-Pöppelmann-Haus, Herford, 1995

 

Technik und Kunst treffen sich in den Arbeiten von Karl Martin Holzhäuser. Als Professor der Fotografie ist er mit technischen Apparaten und Prozessen befasst. Der Fotograf selbst ist ja ein Homunculus des 19. Jahrhunderts, eine synthetisch-technische Kunstfigur, zusammengefügt aus Optik, Mechanik, Chemie und Malerei seiner jeweiligen Epoche, angenabelt an den technischen und ästhetischen Fortschritt. Das "Bild aus der Maschine", die Fotografie, hat bis heute Schwierigkeiten, sich als technisches Medium in einer technikfeindlichen Kunstszene zu behaupten. Da heute jeder den Fotoapparat zur eigenen Bilderproduktion benutzen kann, ist die Fotografie zudem als Massenmedium eingeführt und scheint individuellen Formwillen auszuschließen. Man geht in eine Fotoausstellung mit einem vorgeprägten Erwartungshorizont, der durch die eigene Handhabung zusätzlich eingeengt ist.

 

Die Überraschung in Holzhäusers Bildern besteht zunächst in der Enttäuschung dieser Erwartungen. Fast nichts auf diesen Bildern erinnert an irgend etwas, das gemeinhin mit dem Begriff Fotografie verbunden ist. Es sind keine Abbildungen oder Interpretationen einer sichtbaren Außenwelt durch den Fotoapparat, keine Menschen aus der Beobachtung oder Inszenierung gestaltet, kein Hinweis auf eine sichtbare Außenwelt, sondern es sind reine Bewegungen farbigen Lichts. Und doch sind diese Arbeiten in einem ganz elementaren Sinne Foto-Grafien, vom griechischen Wort photo graphein abgeleitet, also vom Licht, mit Licht gezeichnete Bilder auf fotografischem Material, "Lichtmalereien".

 

Holzhäuser arbeitet nicht mit der Kamera, sondern mit verschiedenen für seine Zwecke geformten Lampen, Lichtgriffeln, Lichtpinseln. Anders als der Fotograf mit der Kamera, der Licht auf seine Objekte wirft, Licht der Sonne oder das künstliche des Studios, der also im Licht arbeitet, finden Holzhäusers Gestaltungsprozesse im Dunklen statt. Er selbst, seine Hand, die Bewegung des Arms, des Zirkels, des ganzen Körpers gelegentlich, schaffen erst die Formen, welche nur der chemische Prozess der Farbfotografie sichtbar machen kann. Diese an Punktierungen, Vorhänge, Fahnen, Bänder, Wellen erinnernden Strukturen sind nicht die Gegenstände, als welche sie erscheinen, sie sind ausschließlich Ergebnisse eines fotografischen Prozesses, sie wären ohne den Künstler nicht existent. Sie stellen nichts weiter dar, als sich selbst. Hier spielen Elemente des Action painting ebenso hinein wie die serielle Kunst und die strukturbildenden Prozesse der generativen, das heißt, ihre Bildwelten erst erzeugenden Fotografie.

 

Bei aller vitalen Ausstrahlung haben diese Bilder immer ein durchgreifendes rationales Konzept. Sie unterliegen einem vorab entwickelten Kalkül. Bevor sie sich aus dem Fotopapier heraus entwickeln lassen, haben sie ihre erste Existenz, gewissermaßen ihr Negativ, im Kopf des Künstlers. "Wenn ich in meinem Bild bin", sagt der Action Painter Jackson Pollock, "weiß ich nicht, was ich tue". Pollock arbeitet instinktiv und bei hellem Tages- oder Atelierlicht. Holzhäuser arbeitet immer im Dunklen, erst in der Entwicklung der Colormaschine wird das Resultat sichtbar, aber dieser Künstler weiß immer was er tut, er arbeitet geplant. Die Arbeiten folgen erdachten, rationalen Programmen. Sie haben eine in sich geschlossene Logik der Abfolge mit einer aus dem Programm sich ergebenden Anzahl, Farbe, Form usw.

 

Die Kunst spielt hier der Programmierbarkeit. Ohne sich in irgendeiner Form der Computertechnik zu bedienen, arbeitet sie gedanklichen Umfeld der Programme, welche die erwartete Kunst aus der Maschine möglich machen - oder auch nicht.

 

Schönheit im Sinne einer geschmackvollen, ansprechenden Farbigkeit ist nicht ihr Ziel. Holzhäuser ist kein Schönfärber. Die offensichtlichen ästhetischen Reize seiner Bilder ergeben sich aus dem technischen Prozess. Wenn hier der Begriff Schönheit noch verwendet werden kann, dann eher im Sinne der Schönheit einer mathematischen Formel, eine Bewegungsablaufs oder auch einer technischen Perfektion. Die Farbigkeiten folgen eher der Logik der Spektralfarben des Regenbogens, der fotografischen Grundfarben yellow, cyan und magenta. Sie sind mehr Resultat der gedanklichen Konzeption als des individuellen Ausdrucksverlangens des Künstlers. Wenn sie gelegentlich expressiv wirken, beruht das auf der physiologischen Wirkung von Farbe auf den Betrachter. Holzhäuser ist kein Expressionist. Er ist ein Analytiker und Konstruktivist in dem Sinne, daß er die Möglichkeiten des fotografischen Materials in seine Bestandteile zerlegt und mit diesen Elementen komponiert. Näher als an der anteilnehmenden Abbildung oder der Darstellung von Gefühlen ist seine Kunst der konstruierenden, Klangfiguren fortentwickelnden seriellen Musik zuzuordnen.

 

Die Arbeiten der letzten Jahre zeigen ein weiteres Kontrastprogramm, indem der strengen, kalkulierten Gesetzmäßigkeit der seriellen Bildproduktion seiner frühen mechano optischen Untersuchungen ein kalkulierter Zufall in die Parade fährt und mit den rationalen Programmen ein neues, sinnliches Spiel treibt. So ist ein Kreis zwar sauber gezirkelt, aber seine Ränder brechen auf, so ist eine Wellenbewegung zwar geplant, aber die pulsierenden Nerven und der Takt des Pulses der bewegenden Hand schaffen organische Irritationen, die apparative Bilderzeugung wird ergänzt und immer stärker verdrängt durch die körperhafte Gestaltung, durch die Handschrift im Wortsinne, durch die Bewegungsspur. Damit wird der Körper des Künstlers selbst zum Instrument, analog aber nicht identisch der Pinselschrift des tachistischen Malers. Blitzartige Bewegungen einer neuen, willkürlichen Lust bringen im technischen Medium Organisches ins Spiel und einen Schuss Improvisation, vergleichbar der Kadenz in der klassischen Musik.

 

Karl Martin Holzhäuser, der selbst leidenschaftlich Trompete spielt, klassischen Jazz im New Orleans Stil, gerät in Bildern und Tönen immer mehr in die freie musikalische Bewegung des Free Jazz. Zwischen Rationalität, Konzept, Programm, zwischen Technik und Improvisation sind seine Bilder ein sinnlich anschaubares Gleichnis für die Behauptung und Entwicklung von Befreiungsbewegungen in den Zwängen, die uns umstellen.

 

Holzhäusers Umgang mit dem Medium Fotografie löst zuletzt dieses selbst von ihren apparativen Fesseln. Sein konzeptionelles und informelles Spiel mit den Farben entspricht immer mehr den Gesten der Malerei. Die mit wechselbaren Filtern ausgestatteten Lichtpinsel sind nur noch in dem Sinne Apparate, wie es die unterschiedlichen Pinsel des Malers, getaucht in variable Farben auch sind. Holzhäuser führt die fotografische Technik auf eine elementare Stufe zurück, in der kaum noch, wie in der klassischen Fotografie, sich der Apparat zwischen den Künstler und das Bild schiebt. Die Unmittelbarkeit der schöpferischen Gestik ist in den neuen Bildserien wieder hergestellt. Wie in einer variierenden Spiegelung tauchen Bildkonzepte und ästhetische Visionen aus Kunstwelten auf, in denen sich Holzhäuser im Lauf seines bisherigen Lebens bewegte. Als Schüler von Oskar Holweck lernte er die reduzierte Kunst der Düsseldorfer Gruppe Zero kennen.

 

Mit Kilian Breier entwickelte er eine minimalistische, rationale Form serieller Konzepte, die in den mechano optischen Untersuchungen wie Testserien erscheinen. Diese Zeit des Studiums und der frühen Entwicklung war zugleich geprägt von dem Einbruch der informellen Malerei, die zu den reduzierten Konzepten der Zerogruppe ein anscheinend unvereinbares Kontrastprogramm boten. Die kühle, durchkalkulierte Konzeptkunst Gottfried Jägers, die auf striktes Befragen des fotografischen Materials und seiner technischen Bedingungen Grundlagen der Generativen Fotografie schuf, gab Holzhäusers Bildern über einen langen Zeitraum einen Platz in dieser Szene, zu der er sich noch heute bekennt. "Dennoch ordne ich sie der 'Generativen Fotografie'zu", wie er bemerkt. Warum dennoch ? In diesem Wort steckt auch ein weiterer Impuls der Befreiung. Das Medium tritt über seine Ufer, die Verankerungen in Szenen reißen, die Elemente der Kunst treiben auf neue Konstellationen zu. "Ich könnte ebenso gut mit dem Pinsel wie ein Maler arbeiten, aber ich benutze nun einmal die Fotografie." Die strikte Trennung der Fotografie von der Malerei ist längst aufgebrochen. Wenn Künstler wie Polke und Richter fotografische Techniken für ihre Bilder einsetzen, verwendet Holzhäuser Sprachformen der Malerei im fotografische Material. Gestisches des Informel, Konstruktives der konkreten Kunst, Minimalistisches der Zerokunst, Konzeptionelles serieller Malerei gehen im Werk Holzhäusers eine neue Synthese ein, die bisher nicht möglich schien. Das fotografische Material und die Denkformen der Gegenwart verknüpfen bisher Unvereinbares. In einzelnen Bildsequenzen stellt der Künstler solche Gegensätze demonstrativ neben-, nicht gegeneinander und verdeutlicht diese Absicht im Einzelfall zusätzlich im Bildtitel : parallel/nichtparallel. Die übrigen Bilder der neuen Serien tragen Daten und Zahlenbezeichnungen, als wollte Holzhäuser das Offensichtliche nicht noch weiter verdeutlichen. Dem Gegensatzpaar geometrischer Formen, Quadrat und Kreis, und gestischer, informeller Raum-, Farb- und Strukturbildung tritt immer wieder das musikalische Element hinzu, einmal streng komponiert wie eine Fuge oder eine Zwölftonstück, dann wieder wie Akkorde in vibrierenden Flächen, die sich wie von einem schwingenden Stahlstab gemalt im Raum ausbreiten. Malerei mit Licht, Musik für die Augen.

 

Andreas Beaugrand

neue bedeutungen schaffen durch aufbrechen der alten. (Wolf Vostell)

In: Blau/ Grün/ Rot Katalog zur gleichnamigen Ausstellung Im Bielefelder Kunstverein, 1990

 

Fotografie als eine Form der Kunst hat in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen. Es gibt nicht nur immer mehr Künstler, die in diesem Bereich arbeiten, auch die Variationsbreite der Arbeiten ist grösser geworden. Die Folge ist national wie international ein zunehmendes Interesse von Institutionen, Ausstellungsmachern und Galerien an der künstlerischen Auseinandersetzung mit Fotografie. Nachdem die künstlerische Auseinandersetzung mit fotografischer Technik und Ausdrucksweise zunächst als vorübergehende Modeerscheinung angesehen wurde, findet Fotokunst heute durchweg große Beachtung. Der Zuwachs an Fotokünstlern (fotografischen Malern, Performern, Videokünstlern), der auf Kunstmessen und in internationalen Galerien während der letzten Jahre zu beobachten ist, und die zunehmende Anerkennung der Kunstfotografie, wie beispielsweise die von Bernd und Hilla Becher und ihrer Schüler, oder etwa die des Otto Steinert-Schülers und bisher als Dokumentarist der Düsseldorfer Kunstszene bekannten Fotografen Bernd Jansen sprechen für sich.

 

Dieser Bedeutungszuwachs ist leicht nachvollziehbar: Noch am Ende des 19. Jahrhunderts gab es in der Öffentlichkeit kaum Bilder, obwohl es bereits seit 60 Jahren die photographische Kamera und seit etwa zwei Jahrzehnten die Reproduktionsmittel für den Massendruck von Bildern gab: Während des ganzen Jahres 1895 wurden beispielsweise in der Berliner lllustrirten Zeitung nur 15 Abbildungen gedruckt. Weitere 60 Jahre später finden sich in einer beliebigen deutschen lllustrierten 300 bis 400 Fotografien und Bilder. Hält man sich nun die zum Teil millionenhohen Auflagen der unzähligen Printmedien auf dem heutigen internationalen Markt in Verbindung mit den "beweglichen Bildern" von Film, Fernsehen und Video auf der Millionenzahl von Leinwänden und Bildschirmen in aller Welt vor Augen, wird man förmlich von einer Flut von Bildern und somit von Vorstellungen, Eindrücken und Wahrnehmungen überrollt. Damit erhält die visuelle Information eine Bedeutung, die etwa zur Zeit der Aufklärung der Rolle der Vernunft eingeräumt wurde Zugleich beginnt damit aber die Diskussion darüber, ob das, was wir sehen, oder das, was wir denken, die eigentliche Wahrheit ist Die abendländische Philosophie hat sich seit Platon und Aristoteles für das Denken entschieden - der moderne Mensch scheint aber dem Optischen den Vorzug gegeben zu haben und noch weitgehend zu geben. Er folgt unreflektiert der Quantität belangloser und bedeutungsloser Bilder, die nur Abbilder einer scheinbaren Wirklichkeit sind.

 

Von daher ist die Suche nach einem neuen Realitätsbegriff eines der Hauptanliegen der modernen Kunst überhaupt. Es kann nicht mehr nur darum gehen, ob ein Bild - sei es ein Gemälde oder eine Fotografie - etwas Figuratives oder Abstraktes enthält, ob damit etwas erkennbar, begreifbar ist oder eben nicht, ob sich dadurch der Charakter des Bildes erschließt, - sondern es geht ausschliesslich darum, dem Bild eine reale Gültigkeit zu geben, ohne dass es etwas abbildet. Es geht um das Bild als einen autonomen Gegenstand, der seinen Sinn in sich selbst und "an sich" hat.

 

Der Bielefelder Professor Karl Martin Holzhäuser beschäftigt sich seit Jahren mit eben dieser Frage. Seine mit Licht gemalten Bilder zeigen keine Ausschnitte der Umwelt, wie sie in der abbildenden Fotografie üblich sind. Sie sind autonome, frei und gestisch mit farbigem Licht gemalte Bilder auf fotografischem Material. Es sind Unikate, nicht wiederholbar. So widersprechen sie der grundsätzlichen Eigenschaft der im Prinzip unendlichen Reproduzierbarkeit des Fotonegativs, und so reflektiert Holzhäuser die Bedeutung der Fotografie "an sich", er bedient sich ihrer technischen Voraussetzungen, er experimentiert und trägt so auch zu einem neuen Verständnis der Realität bei - durch "generative" Fotografie.

 

Die Generative Fotografie ist eine künstlerische fotografische Bewegung, die die Aufgabe und Bedeutung der fotografischen Disziplin reflektiert, sich mit ihrer eigenen Struktur auseinandersetzt - und die 1968 mit einer Ausstellung in Bielefeld ihren Anfang nahm. Initiiert wurde diese Ausstellung von Gottfried Jäger, heute Professor am Fachbereich Design der Fachhochschule Bielefeld, und beteiligt waren die "generativen Fotografen" Pierre Cordier, Hein Gravenhorst und der damalige Lehrer Holzhäusers, Kilian Breier. Der Bielefelder Kunstverein verfolgt mit seinen Ausstellungen im Museum Waldhof seit Jahren die Intention, neben der Präsentation regionalen und überregionalen künstlerischen Schaffens von der Klassischen Moderne bis zur Gegenwart innovative, kreative Arbeiten, Ideen und Formen zu präsentieren, die im allgemeinen unter dem Begriff ,"Avantgarde" zusammengefasst werden, und die zugleich einen Beitrag zu der gemeinhin geführten Diskussion leisten können, was überhaupt die Bezeichnung "Kunst" verdiene und was die Bedeutung und die Aufgabe der modernen Kunst sei. Darüber hinaus verfolgt der Kunstverein in Übereinstimmung mit Mondrian das Ziel, die moderne Kunst aus der musealen Situation herauszuführen Diese Anliegen lassen sich bei diesem Ausstellungsprojekt in besonderer Weise vereinbaren: Der Bielefelder Kunstverein öffnet sich mit dieser Ausstellung und in Zukunft in unregelmässiger Folge einer bedeutenden wissenschaftlichen wie künstlerischen Initiative vor Ort, er leistet einen Beitrag zur weiteren Klärung des allgemeinen Realitäts- beziehungsweise Kunstbegriffes und kann vielleicht sogar dazu beitragen, die "alten Bedeutungen" der Fotografie durch neue aufzubrechen.

 

Karl Martin Holzhäuser, 1944 geboren, lebt und arbeitet seit 20 Jahren in Bielefeld und ist Professor für Fotografie an der Fachhochschule Bielefeld. Durch die anlässlich dieser Ausstellung vorgesehene Podiumsdiskussion zwischen Gottfried Jäger, Pierre Cordier und Kilian Breier im Waldhof, durch den Vortrag von Dr. Herbert W. Franke im Vortragssaal der Kunsthalle zum Thema "Neue Denkansätze zur generativen Ästhetik", durch Holzhäusers im Museum Waldhof ausgestellte Lichtmalereien und den hier erstmals gezeigten Zyklus Blau/Grün/Rot und durch Werkgespräche mit dem Künstler bieten sich Möglichkeiten zum Verständnis einer innovativen künstlerischen Disziplin: Der Fotograf Holzhäuser reduziert die im Prinzip unendliche Farbigkeit des Lichtes auf die drei in der Fotografie gebräuchlichen Grundfarben, er revidiert die grundlegenden Eigenschaften der abbildenden Fotografie, er macht die Fotografie zur Kunst.

 

Gerhard Glüher

Kalligramme des Lichtes

In:Karl Martin Holzhäuser-Lichtmalerei Edition Marzona Düsseldorf/Bielefeld 1990

 

Der folgende Text unternimmt den Versuch einer Beschreibung der Entstehungsgeschichte der Lichtmalereien Karl Martin Holzhäusers. Mit dieser Bildgattung zeigt sich ein völlig neuer Anfang in der Genese des Werkes, das in den 60er Jahren begann. Sie markieren wohl einen Höhepunkt in Holzhäusers Werk, legen aber gleichzeitig den konzeptionellen Grundstock zur Entwicklung einer praktisch unendlichen Zahl bisher nicht gesehener möglicher Bildformen. Kein Kunstwerk entstand je durch geniale Eingebung eines jenseits von Zeit und Raum schwebenden Schöpfers, sondern ist Produkt eines langen Prozesses der Auseinandersetzung eines Menschen mit dem bildnerischen Potential seiner Zeit. Der Nährboden, von dem zumindest die Sicherheit der Farbbehandlung der Lichtmalereien zehrt, sind die informelle Malerei etwa eines Morris Louis, sowie die Farb-Raumkörper eines Mark Rothko. v Daneben sollte man die Herkunft Holzhäusers aus der Gründungsgruppe der "Generativen Fotografie" nicht vergessen. Als sie sich Mitte der 60er Jahre konstituierte, standen auf ihrem Programm zur Schaffung einer Grammatik der fotografischen Bilderzeugung fast ausschließlich apparative und techno-optische Methoden (1).

 

Waren die Prinzigien und das Lehrprogramm der generativen Bi ldherstellung erst einmal verstanden, erschöpfte sich im Lauf der Jahre ihr Formvokabular und die ersten aussagestarken Untersuchungen verloren in der Wiederholung auch ihre formalästhetischen Reize. In dieser Hinsicht waren sie naturwissenschaftlichen Versuchen direkt vergleichbar. Das Interessanteste ist oft der Weg auf der Suche der Prognosen. Haben sie sich endlich im Experiment verifiziert, können sie als Werkzeug zum Weiter-arbeiten eingesetzt werden. Auch Holzhäusers frühe mechano optischen Untersuchungen waren solche genau kalkulierten Experimente mit den Abbildungsmodalitäten optischer Systeme.

 

Zu kurz gedacht wäre es allerdings, wollten wir die Lichtmalereien der späten 80er Jahre als konsequente Entwicklung oder gar als Anwendungen seiner Bildgrammatik verstehen. Es gibt vielmehr eine scharfe Zäsur nach den Aufglasmalereien des Jahres 1979 (2). Die Formen dieser Bildserien verdanken ihre Entstehung dem "mathematischen System der Permutation". Hatte der Künstler hier eine Stufe höchstmöglicher Rationalität und eine fast beängstigende Distanz zu einem Werkstück erreicht, die sich zu verselbständigen begann? Wir müssen diese Frage bejahen, wenn wir die Werkgenese genau verfolgen.

 

Der Bruch ist deutlich markiert, es gibt keinen Übergang: 1982 taucht fast unvermittelt eine großformatige, fünfteilige Sequenz auf, die den einfachen Titel Landschaft 1-5 trägt. Es handelt sich hier nicht um eine vom Künstler willkürlich gewählte Titulierung einer beliebigen Serie generativer Bilder, sondern wir haben tatsächlich die optische Metapher einer imaginären tektonischen Faltung vor uns. Sie könnte irgendwann passiert sein, oder gerade jetzt weit draußen im Universum stattfinden - wir wissen es nicht, denn Ort und Zeit sind aufgehoben. Das völlig Neue dieser Landschaft liegt zum einen in der benennbaren Symbolik der Formen (3) und ihr eindeutiges räumliches Verhältnis zueinander, zum anderen - was mir noch wichtiger erscheint - im hohen Maß an geradezu poetischer Narrativität. Die Tatsache, dass Holzhäuser in den Landschafts-Serien erstmals Bildformen schafft, die auch Visualisierungen von Ereignissen außerhalb seiner foto-optischen Farbwelten sein könnten, unterscheidet sie radikal auch von den Lichtmalereien seines aktuellen Schaffens. Dieses zeugt gegenwärtig wieder (4) in sich geschlossene Systeme von Bildformen, die sich immer weiter generieren oder mutieren können, aber keine Berührungspunkte zu externen Realitäten aufweisen. In Landschaft 1-5 gibt es eine eindeutige Leserichtung, nämlich von links nach rechts, die auch nur in dieser Weise mit den Bildinhalten einen Sinn macht. Problemlos können wir der "Sage" folgen, welche der Künstler über die Entstehung seiner Ur-Landschaft zu berichten weiß: Vor dem tiefgründigen Schwarz eines Hintergrundes breitet sich eine schmale, eisblaue Vordergrundfläche aus, die schnell wieder konturlos ins Schwarz übergeht. Lediglich eine dünne, weiße Linie, parallel zum unteren Bildrand verlaufend, gibt dem Auge Halt. Sie ist gleichzeitig Naht- und Schlüsselstelle im Erzählvorgang. Im ersten Bild wird sie fast ganz vom Dreieck verdeckt, verschafft sich aber wieder Geltung, wenn das Dreieck im letzten Bild nur noch auf schmaler Basis steht. Das Verschwinden der Linie ist als ein Verdecktwerden zu deuten, denn die Kanten des Dreiecks durchschneiden sie. Im zweiten und dritten Bild steigt aus dem Blau des Vordergrundes ein zunächst stumpfwinkliges Dreieck auf. Es besteht aus dem gleichen "Farbmaterial" wie der Untergrund und bleibt diesem mit der Basis im Ablauf der Sequenz immer verbunden. Die Dreieckform nimmt vom zweiten bis zum fünften Bild linear an Höhe zu, bei gleichzeitiger Verengung der Standfläche. Ein gelb-rot-Akkord im Dreieck, der komplementär zum cyan-blauen Grund steht, unterstützt dieses Emporstreben. Die Farbdichte und -intensität nähert sich umsomehr dem "heißen" Bereich der Farbskala, je spitzwinkliger das Dreieck wird. Im letzten Bild ist der höchstmögliche Kulminationspunkt erreicht. Als rotglühendes Fanal leuchtet in erbarmungsloser Klarheit der Obelisk aus dem kalten Dunkel auf.

 

Ein solches energiegeladenes Bild ruft längst verschüttete Erinnerungsfetzen in uns wach an archaische Zeiten: mythologische Zeichen inmitten einer sterilen Technikwelt. Was zum Nachdenken anregen mag ist die Tatsache, daß diese "Landschaft" noch mit den Mitteln der generativen Fotografie geschaffen wurde, nämlich einer Kamera auf optischer Bank, weißen Papieren, farbigem Licht und Schärfe/Unschärfe-Relationen. Auf verblüffende Weise deckt sich die Rezeption dieser Serie mit dem, was Roland Barthes über den Mythos schrieb: Der Mythos ist ein reines ideographisches System, in dem noch die Formen durch den Begriff motiviert sind, den sie darstellen, ohne sich jedoch im geringsten mit deren Darstellung zu erschöpfen (5).

 

Beobachten wir den nächsten Schritt, der sich ein Jahr später vollzieht. Wir finden wieder zwei fünfteilige Reihen, und einer ihrer Titel scheint jetzt mit Absicht gewählt zu sein: Landschaft und Erkenntnis. Genau genommen handelt es sich um eine dreiteilige Installation, bestehend aus zwei Bildreihen und einem fünfteiligen Text, der den einzelnen Fotoarbeiten zugeordnet werden konnte. Hatten wir in Landschaft 1-5 das Entstehen einer Form, ihr kraftvolles Durchsetzen gegen den Sog in die Tiefe des Bildes nachvollziehen können, erleben wir in Landschaft 1-5,111 ein zögerndes, sukzessives Verschwinden gebrochener Farbspuren in die weiße Bildfläche. Dieses Weiß ist als Bedeutungsträger noch offener als das schwere Schwarz der vorhergehenden Sequenz.

 

Nehmen wir das Symbolangebot an, das uns der Titel anbietet, können die beiden Serien wie folgt betrachtet werden (dies ist nur ein persönlicher Vorschlag unter vielen möglichen): In der ersten Serie ist Bild 1 etwa bis zur halben Höhe gefüllt mit Farbformen. In den folgenden Bildern 2-4 werden die Farbformen so weit gegen den unteren Bildrand hin zurückgedrängt, dass in Bild 4 lediglich in der unteren linken Ecke noch eine Farbspur zu erkennen ist. Diese Sukzession läßt sich auf zwei Arten interpretieren. Entweder als ein filmisches Abtasten einer Landschaftsinformation von links nach rechts, wobei die Farbfelder als eine einzige geschlossene Form gesehen werden müssen. Der Betrachter behält seinen Standort bei und vollzieht eine Kopfdrehung - er betrachtet die Landschaft mit den Mitteln des "Kameraschwenks". Oder nehmen wir die zweite Rezeptionsmöglichkeit, welche der Betrachter als eine weniger konkrete Existenz voraussetzt: Die Landschaft scheint sich von ihm wegzubewegen, wobei die leere Fläche des letzten Bildes einen nicht begründbaren Sog nach rechts ausübt. Diese Betrachtungsart ist als ein imaginärer Flug über die Erdoberfläche deutbar, deren Realität nur noch als Farbschemen angeboten wird.

 

Ließ uns in Landschaft 1-5, III der Künstler mit seinem Werk fast gänzlich ohne Hilfestellung alleine, wird in Landschaft und Erkenntnis deutlich ein Rezeptionsmodus vorgegeben, der die Variable Zeit in das Zentrum der Interpretation rückt. Diese Arbeit kann nun weder als rahmenübergreifende multiple, noch als kontinuierliche, narrative Sequenz gelesen werden. Es ist eine Art bildgewordene Poesie, ein Versuch über die Vergänglichkeit.

 

Wie kommen wir zu diesem Schluß? Zwei Konstanten führen als roter Faden das Auge durch Raum und Zeit: eine im flachen Winkel von links nach rechts aufsteigende Diagonale, die den unteren Abschluß der Farbformen setzt, sowie die Farbformen selbst. Alle weiteren Bildkomponenten sind Variable, die um jeweils den gleichen Betrag verändert werden, wenn ein Wechsel von einem Bild in das nächste stattfindet. Benennen wir die Variablen: die Ausdehnung des Weißraumes über den Farbformen, die Farbintensität und die Farbhelligkeit. Wir sehen im ersten Bild über der oben erwähnten Diagonale unscharf konturierte blau/rote Farbzacken aufsteigen. In den jeweils nächsten Bildern wird diese Farb-Landschaft von oben her immer um die halbe Höhe "abgeschnitten", verwandelt in ein Farbband. Gleichzeitig nimmt der Weißgehalt zu, während sich die Farbintensität abschwächt. Das letzte Bild ist bis auf den zartgrauen Hauch einer kaum mehr wahrnehmbaren Linie weiß.

 

Es ist unmöglich, diese Reihe als natürliche Sequenz zu sehen. Obwohl die Farbformen gleichmäßig verschwinden, geschieht dies der innerbildlichen Logik folgend nicht konstant gleichmäßig. Ebenso wie im Drama oder im Roman haben wir zu berücksichtigen, dass die Erzählzeit selten mit der erzählten Zeit kongruent verläuft. Führen wir uns vor Augen, dass die Information der Bilder 2 bis 4 immer dieselbe ist, können wir aus dieser Redundanz folgern, dass das Geschehen an einen anderen Ort verlagert ist. Mit anderen Worten: Die Erzählzeit umfaßt nur wenige Sekunden - genau die Dauer, wie wir benötigen, um das Prinzip der Veränderung zu verstehen - während die erzählte Zeit nicht nur unendlich lange in die Zukunft reichen, sondern irgendwann vor unserer Existenz ihren Anfang genommen haben könnte. Wenn also innerhalb der Bilder nichts erzählt wird, müssen es die Zwischenräume sein, in denen sich das Geschehen verbirgt. Gehen wir kurz auf einen solchen Zwischen-Raum oder eine solche "Leerstelle" ein, nämlich das Weiß. Wir können hier das Weiß nur deuten als eine Substanz, hinter der die Farbformen verschwinden. Gleichzeitig tritt die Bildfläche in radikaler Deutlichkeit hervor, obwohl nichts auf ihr passiert. Symptomatisch für diesen Effekt ist das dritte Bild, auf dem sich eine gewisse Verwandlung vollzieht. Die Farbformen, die bisher "Vorne" standen, treten in die Tiefe zurück und die weiße Fläche des Fotopapiers schiebt sich ganz dicht an das Glas des Rahmens heran. Die Dimensionen von Raum und Zeit überlagern und verschieben sich in einer Weise, die unsere Orientierung auf ein labiles Podest stellt. Unruhe und Zweifel kommen auf an der Gewißheit unserer Wahrnehmung. Die Antwort auf die Fragen nach den Ursachen sind zu finden im Geschehen zwischen den Bildern, doch genau dieses entzieht sich unserem Blick.

 

Diese Reihe führt symbolisch ein Phänomen vor, das auch unser Denken bestimmt: Auf dem Wege zur Erkenntnis halten wir allzuoft die fragmentarischen Fakten - das Wissen - für das Erkannte, doch sind es nicht die ungedachten Gedanken "dazwischen", die uns weitertreiben? Die Arbeit Landschaft und Erkenntnis muß von der Komplexität ihrer Aussage her gewertet werden als ein weiter, aber einsamer Vorstoß in das Gebiet der Lichtmalereien der Jahre 1987 und 1988. Blenden wir uns an dieser Stelle aus den "Landschaften" aus, nicht ohne zu unterstreichen, dass in ihnen viele Aspekte bereits angelegt sind, die in den Lichtmalereien auf abstrakterem Wege präzisiert werden.

 

Der Raum.

 

Es sind vornehmlich die raumkonstituierenden Eigenschaften der Lichtmalereien, die sich einer unbeschwerten Leseart in den Weg stellen und die im folgenden Absatz daher näher untersucht werden. Wenn in den folgenden Ausführungen vom Raum die Rede ist, darf man nicht die gewohnte fotoperspektivische Raumsymbolik mit ihren definierten Bildgründen erwarten. Sie ist als Folge des Arbeitens ohne den optischen Apparat ersetzt durch eine undefinierbare Tiefe "hinter" der Schicht. Diesem Abgleiten nach innen wird die starke Kraft der oft diaphan angelegten Farben entgegengehalten, die versucht, die Farbkörper von der sie tragenden Schicht abzuspalten. Aus dem Wirken dieser antagonistischen Kräfte entsteht ein merkwürdiges Schweben der Formen und Farben, das den Eindruck erweckt, im Moment der Betrachtung könnten die Formen ihre konkrete Gestalt verlieren. Dieses Phänomen wird nicht nur durch einen gegenstandslosen Hinter- oder Untergrund verursacht, sondern resultiert überwiegend aus den Formen und deren Anordnung zueinander. So wirken z.B. zwei- oder dreischichtige virtuelle Raumschalen wie übereinandergeschichtete transparente Farbfolien (7). Diese Raumschalen lassen sich nicht begreifen als ein einfaches Modell von "Bildgründen", wie es vom Tafelbild oder dem Foto her bekannt ist, sondern sie überlagern und durchdringen sich ständig. Dadurch fällt eine klare Ortsbestimmung der Formen schwer. Wenn sich scheinbare Tiefe in Fläche verwandelt, z.B. in den Bildern, deren Formen orthogonal angeordnet sind (8), reicht sie dann bis an die Bildoberfläche heran.

 

Neben der schon erwähnten These, dass die "Tiefe" der Lichtmalereien nicht als perspektivischer, pseudo-gegenständlicher Raum zu begreifen ist, ließe sich eine zweite stellen, die den Raum deutet als ein allseitig offenes, das Licht symbolisierendes "Objekt". Verlassen wir diese, vielleicht schwer nachvollziehbare Rezeption und halten uns an die gegebenen "Fakten", stellt sich heraus, dass wir nichts anderes vor uns haben als ein belichtetes Stück Fotopapier. Genau mit diesen ambivalenten Wahrnehmungsmöglichkeiten rechnen die Bilder und spielen sie gegeneinander aus. Selbst die Kenntnis ihres Herstellungsprozesses (9) kann diese Mehrdeutigkeit nicht zu Gunsten einer Seite entscheiden. Das Gestische des handwerklich Gemachten (Holzhäuser nennt seine Bilder nicht umsonst Malereien) löst sich sofort auf, sobald wir uns auf das Spiel mit Immaterialitäten und Räumlichkeiten einlassen. Wir nehmen uns das Abenteuer des unmittelbaren Erlebnisses, wenn wir diese Bilder unter nur einem Gesichtspunkt betrachten. De facto sind sie handwerklich-gestische Lichtkalligramme, doch viel wesentli cher ist das Faktum, dass nicht die Hand mittels eines Werkzeuges ein Material gestaltet, sondern die Energie farbigen Lichtes die Ursache dieser Bilder ist.

 

Selbst wenn der Künstler real benennbare dreidimensionale Körper wie z.B. Kuben, Winkel, Kegel schafft, stellt er ihre manifeste Gestalt in Frage, indem er mit dem Wissen des Betrachters rechnet, der natürlich die Möglichkeiten der optischen Täuschung kennt.

 

Die Dynamik.

 

Zarte Spuren tauchen aus der Tiefe auf, entwickeln sich zu schleierartigen Schemen, die plötzlich Figuren werden. Kaum haben sie sich gebildet, entwickeln sie eine hohe Dynamik. Die Assoziation an farbige Seidentücher, die sich im sanften Lufthauch bewegen, steigt in der Phantasie des Betrachters auf.

 

Eine leichte Bewegung kann sich zu einem rasenden Vorbeiwischen steigern, wenn wir dem horizontalen Verlauf der Lichtspuren folgen. Die Bewegung der Hand, die den "Lichtpinsel" (10) führte, ist nur auf dieser Ebene spürbar. Das Auge folgt willig dem Schwung der bilddurchlaufenden Linien, zieht in Lichtgeschwindigkeit vorbei an imaginären Farbzonen, wird vor- und zurückgerissen: Keine Möglichkeit bietet sich zur stillen Zwiesprache. Selbst Farbbalken, die den Sog bremsen könnten, werden wahrgenommen wie durch einen Schleier - sie scheinen weit hinter der Bildebene zu liegen, auf der das Auge sich bewegt. Eine ständige Dynamik des Fahrens, Schwebens, Segelns, Rotierens eignet den Formen, einen Stillstand gibt es nicht. Dem Betrachter bleibt keine andere Wahl, als die Bewegungen nachzuvollziehen. Die latente Flüchtigkeit der Formen wandelt sich bei den Kreisbildern der Reihen 90.5 bis 90.11 in eine Rotation um. Vor diesen Bildern kann dann auch wieder eine kontemplative Betrachtung stattfinden, wie sie bei den Landschaften intendiert war.

 

Der Prozeß der Bildentstehung.

 

Den stärksten Bezug zur Malerei haben die Bilder Holzhäusers im Punkte ihrer Entstehung. Das tachistische Bild will gesehen werden als der Niederschlag - die sich manifestierende Spur - emotionaler Empfindungen oder Schwingungen des Künstlers. Der Akt des Malens muß reflexartig, aus der Versenkung entstehend, im abgeschirmten Raum als gestisches Bezeichnen erfolgen, nicht als rationales Kalkül, sonst verliert er die Glaubwürdigkeit. Die tatsächliche Entstehungsdauer spielt dabei keine entscheidende Rolle. Die Hand des Künstlers ist überall präsent und Faktur, Material, Duktus, Energie treten deutlich über einen möglichen inhaltlichen Aspekt hinaus, ja, sie sind das Thema der Bilder.

 

Alle diese Eigenschaften lassen sich auch an den Lichtgemälden beobachten, wobei der Aspekt des Prozessionalen eine besondere Dimension annimmt, denn hierin unterscheiden sie sich vom tachistischen Bild. Sobald Holzhäuser den Lichtpinsel auf das Papier legt, muß die Komposition vor dem inneren Auge vollendet sein. Es bleiben ihm zur Verwirklichung nur wenige Sekunden Zeit, und jeder ausgeführte Belichtungszug ist unveränderbar in das Papier geschrieben. Die Bewegungen der Hand sind für den Betrachter in jeder Nuance nachvollziehbar,und jedes Zögern, jede Unsicherheit im kontinuierlichen Bewegungsfluß treten deutlich hervor. Im Zyklus parallel/nichtparallel von 1987 lädt Holzhäuser die Ausdrucksmöglichkeiten der linearen Herstellung des Bildes (parallel) gegen die des gebrochenen und zerrissenen Stakkatos (nicht parallel) gegeneinander antreten.

 

Die Farbe

 

Der Bereich der Farbgebung ist der noch am stärksten kontrollierte und systematisierte in den Lichtmalereien, wenn wir ihn mit den zuvor angesprochenen vergleichen. Hier wirkt deutlich die Erfahrung aus den Experimenten der "generativen" Zeit nach, die jetzt souverän entfaltet wird. Im Anfertigen der Farben ist auch der einzige malerisch-handwerkliche Aspekt der Bilder zu finden, falls dieser überhaupt in dieser Werkgruppe diskussionsrelevant sein sollte. Jede Farbe wird mittels eines Filters erzeugt, dessen Ton komplementär zur gewünschten Farbe sein muß, da das Colorpapier direkt ohne Zwischenschritte belichtet wird. Ein transparentes Folienfilter, auf die benötigte Breite der Farbstreifen geschnitten, wird mit Lasurfarbe bemalt und an die entsprechende Stelle des "Lichtpinsels" geklebt. Farbton, Farbdichte und die Geschwindigkeit der Bewegung bei der Belichtung bestimmten die endgültig entstehende Farbe auf dem Papier. Zwar führt Holzhäuser genaueste Testreihen zur Bestimmung der Filterfarben durch, doch einen letzten Rest an ungewollten Einflüssen muß er in Kauf nehmen. Eine noch größere Rolle spielt der Zufall bei der Belichtung und der anschließenden chemischen Verarbeitung. So fällt z.B. auf, dass das Gelb erstens selten auftaucht und zweitens eine viel kürzere Farbskala erreicht als andere Farben. Ein Grund hierfür ist die unzulängliche Maskierung des Papiers im Gelbbereich. Noch unberechenbarer ist das Ergebnis, wenn das Werkzeug schnell, intuitiv über das Papier bewegt wird und zudem noch die Belichtung kurzfristig unterbrochen wird. In diesem, vom Künstler schwer kontrollierbaren Zwischenbereich, gewinnen die Lichtmalereien ihre größte Lebendigkeit und vermögen ein Eigenleben zu entwickeln, das sie von jeder bisher bekannten künstlerischen Technik absetzt. Man betrachtet zum Vergleich dieser These die Lichtmalereien 87.28.2 bis 87.28.6, die durch schnelle Rechtsdrehung der Lampe entstanden. Wenn wir uns nur auf den Farbgang innerhalb des Kegels konzentrieren, stellen wir eine Verdichtung an den Rändern fest. Dort muß die Lampe (vielleicht zwangsläufig) länger eingewirkt haben. In der Mitte der Form, an der Stelle der schwächsten Dichte, hatte die Bewegung ihre größte Geschwindigkeit erreicht. Das Licht überstrich diese Strecke sehr schnell bei kürzester Belichtungszeit, woraus diese geringe Farbdichte resultierte.

 

Ziehen wir das Triptychon 87.2.1, 87.2.2, 87.2.3 hinzu. Dort wird im Bild 872.2 die Lampe inmitten der Horizontalbewegung kurz eingeschaltet, Bild 87.2.3 zeigt das Ergebnis einer Belichtung, die nur am Anfang und am Ende der Bewegung stattfand. Interessant ist festzuhalten, dass in beiden Bildern die Farbe unkontrolliert als nadelfeine Spur, zackenartig zerrissen, einsetzt, sich nach kurzem Verlauf verdichtet, den vollen Tonwert erreicht und ebenso flach wieder ausläuft. Wir kommen jetzt zu einigen Spezifika, die charakteristisch für das Arbeiten mit Farblicht ohne Kamera sind. Beim Übereinanderbelichten verschiedener Farben entstehen keine Mischfarben, sondern Lasuren, ähnlich wie im Aquarell, wenn die Farben "trocken" in Schichten übereinander gemalt werden. Werden die drei optischen Grundfarben Blau, Rot und Grün übereinander belichtet, löschen sie sich gegenseitig aus und es entsteht die substraktive Lichtfarbe Schwarz. Dieses Phänomen der Farbmischung ist Grundthema der letzten Arbeiten Holzhäusers, wie es z.B. die Bilder Blau/ Grün/Rot 90.7 und Blau/Grün/Rot 90.4.9 anschaulich belegen. Das Licht reagiert mit dem Colorpapier so, wie wir es auch von der Pigmentfarbe kennen, es intensiviert sich bei größerer Farbkonzentration. Noch eine Gemeinsamkeit mit der Pigmentmalerei ist feststellbar. In starker Verdünnung nähern sich sowohl Pigment- als auch Lichtfarbe dem Weiß. Erhöbt man jedoch die Konzentration beider, verändert sich das Pigment nicht mehr, während die Lichtfarbe vergraut und schließlich in das Schwarz übergeht. Man vergleiche hierzu die Arbeit hell/dunkel von 1986, an der dieses Phänomen verdeutlicht wurde.Diese Farbveränderung beruht auf einem Gesetz der optischen Farbmischung, das nicht interpretionsbedürftig ist, das der Lichtmaler aber sehr wohl als Faktum der Belichtungsdauer im Prozeß der Bildherstellung berücksichtigen muß.

 

Stellen wir uns abschließend die Frage, ob eine Art Semantik der Farbe exisitiert und wenn ja, welche Aussagen darüber gemacht werden können. Es gibt drei Farbsysteme in den Lichtmalereien, die seit den ersten Versuchen im Jahre 1983 immer wieder auftauchen. Erstens: Kombination der drei optischen Primärfarben Blau, Grün und Rot. Zweitens: monochrome hell/dunkel-Staffelungen (z.B. in den parallel/nichtparallel-Serien von 1987), die in den Zyklen (90.2.1 bis 90.6.1) durch Mehrfachbelichtungen geschaffen werden, im Gegensatz zu den Farbbahnen, die durch mehrere Filter belichtet wurden. Drittens: kombinierte Farbklänge, die das gesamte Spektrum umfassen können oder komplementärfarbig angelegt sind. Frei oder rein intuitiv verwendet kommen die Farbakkorde nicht vor, wie man evtl. nach den disziplinierten "Landschaften" hätte vermuten können. Die Freiheit der Geste gönnt sich der Künstler wohl in der Formgebung, nicht aber in der Farbe. So einfühlsam, fast sentimental Iyrisch manches Formenspiel sich entfaltet, so analytisch durchdacht sind die Farbkombinationen. Als Schüler Oskar Holwecks wird man Holzhäuser zugestehen müssen, dass er die Itten'sche Farbenlehre mehr als nur beherrscht. Vielleicht wage ich mich mit der Behauptung zu weit vor, dass jede der Lichtmalereien versucht, die psychologische Wirkung der thematisierten Farbe auf ein labiles und doch gleichzeitig harmonisches Gleichgewicht zu bringen. Sehr selten kommen echte Komplementärfarben in benachbarten Feldern vor, und genauso wenig stehen satte Buntfarben (wie etwa Segmente aus dem Farbenkreis) nebeneinander. Stattdessen passiert oft folgendes: Ein Farbakkord wird meist mit kräftigem Ton angespielt, so dass der Betrachter sich das Thema einprägen kann. Über dieses Thema wird nun entweder in breiten Variationsfolgen improvisiert, ohne in schräge Dissonanzen zu verfallen, oder es setzt verhalten kontrapunktisch eine zweite Melodie ein, welche die ersten Akkorde verarbeitet. Als Beispiele für die erste Methode betrachtet man die Bilder 87.6 (eine Improvisation zum Thema Gelb) und 87.11.a (eine Improvisation zum Thema Blau, die zeigt, dass selbst Gelb und Rot durch die gekonnt gewählte Farbtemperatur sich der Kühle des Blau annähern können). Als Beispiel für die zweite Methode steht das Bild 87.9. Hier findet über zwei Dritteln der Bildstrecke eine Improvisation des Themas Cyan statt, dem nach schneller Improvisation in Gelbgrün (das auf dem Farbkreis zwischen Cyan und Rot steht) eine kurze Melodie in Magenta entgegengespielt wird. Unerwartet findet das Stück sein Ende in einem tiefen Blauakkord, der zwar abrupt, aber harmonisch die Verbindung zieht.

 

Vorsichtiges Resümee.

 

Es fand über die Jahre hinweg ein Prozeß statt, der sich herauskristallisiert als ein Verwandeln der "Zeichen" generativer Formen in ein "Beschreiben" der Bildfläche mittels der persönlichen Handschrift des Künstlers. Waren die Arbeiten der generativen Richtung zu lesen als Spielzüge (12) innerhalb des Rahmens einer glasklaren Kausalität optischer Abbildungsgesetze, befreien sich die Lichtmalereien von diesen Grenzen und Verpflichtungen. Sie tragen darüber hinaus das Potential in sich, eine eigenständige Ausdrucksform und vielleicht auch Gattung innerhalb der kameralosen bildschaffenden Systeme schaffen zu können. Gerhard Glüher, Marburg, 1990

 

(l) Vgl. hierzu das grundlegende Werk: Jäger, Gottfried u. Holzhäuser, Karl Martin: Generative Fotografie. Ravensburg (Maier)1 975
(2) Vgl. die Abbildungen in: Boström, Jörg: Dokument und Erfindung, Fotografien aus der Bundesrepublik Deutschland 1945 bis heute. Berlin (edition 9) 1989, 5.175
(3) Die Dreiecke könnten z.B. als Berge gesehen werden.
(4) Dieses "wieder", bezieht sich auf einen Vergleich mit den frühen generativen Fotoarbeiten, die ebenso angelegt gewesen sind.
(5) Vgl. Roland Barthes: Mythen des Alltags. Frankfurt/M. (edition suhrkamp) 1964, 5.110.
(6) Sie könnte hier noch Horizont sein
(7) Man vergleiche die Bilder 90.7 und 90.4.1.
(8) Vgl. z.B. 87.5 und v.a. das Diptychon flach/räumlich des Jahres 1986.
(9) Vgl. den Absatz,"Der Prozeß der Bildentstehung"
(10) Der Lichtpinsel ist eine stabförmige Lampe, die durch einen schmalen Spalt das Licht abgibt.
(11) Hierunter versteht man eine Art Vorfilterung in der lichtempfindlichen Emulsion.
(12) Vor allem, wenn man sich die bis in die letzten Deduktionen ausgereizten "permutativen" Tafeln ansieht, wird der Charakter des Spieles mit mathematischen Axiomen deutlich.

 

Jörg Boström

Karl Martin Holzhäuser Lichtmalerei 1987

In: Dokument und Erfindung Fotografien aus der Bundesrepublik Deutschland 1945 bis heute Berlin. Quintessenz-Verlags GmbH, Edition q, 1989 Katalogbuch zur gleichnamigen Ausstellung in: Haus am Lützowplatz Berlin Neue Kunsthalle Freiburg

 

Es ist eine verbreitete Meinung, die Domäne der Kunst sei das Gefühl - die Schönheit, die Mysterien des Irrationalen und der Magie -, außerdem sei sie im besten Sinne zu nichts nutze, während der Technik - und der Wissenschaft- Rationalität, Zweckmässigkeit und Nützlichkeit vorbehalten seien

 

. Wer im einzelnen Forschungsprozesse der Techniker und Wissenschaftler betrachtet, wird auf einen von Nützlichkeit weit entfernten Forschungs- und Experimentierdrang stoßen, bei dessen oft kostspieliger Ausprägung die nützlichen Dinge meist nur als Nebenprodukte abfallen. Über weite Strecken muss man einzelnen Resultaten der Technik nicht nur die Nützlichkeit absprechen, sondern auch in hohem Grade Schädlichkeit attestieren. Vernunft als Maßstab setzende Instanz kann man nicht selbstverständlich in allen technischen Prozessen wiederfinden, wohl aber einen in sich selbst stimmigen, fast zwanghaften, oft paranoiden Automatismus, den zu kritisieren oder gar zu bremsen naiv erscheinen mag, wie Rüstungstechnologie, ABC-Waffen, Militarisierung des Weltraums, Kernenergie zu Zeiten von Energieüberschüssen, Massenproduktion von Kunststoffverpackungen, deren Abbau nicht möglich ist, deren Verbrennung aber Dioxyn freisetzt, Computerisierung von persönlichen Daten, von denen man weiß, dass sie nach oben nicht zu schützen sind, obwohl man gleichzeitig beobachten kann, was Menschen, die an der Macht sind, alles im Schutze der Daten treiben. Man treibt die Automation der Industrieprozesse selbstverständlich voran, wehrt sich aber gleichzeitig gegen die Konsequenz, die da heißt Arbeitszeitverkürzung Vernunft und Rationalität sind nicht aus schließlich im Bereich von Technik und Wissenschaft zu Hause, sie sind überhaupt an keine bestimmte Berufsbetätigung gebunden, sie finden sich auch an der Kunst.

 

Umgekehrt ist Schönheit nicht ein spezifisch künstlerisches Aufgabengebiet. Ästhetisch' Dimensionen finden sich an technischen Bau ten. Wie schön ist selbst die Silhouette eine Atomkraftwerks. "Schönheit" hat für einen Physiker auch eine mathematische Formel, ein physikalisches Gesetz. Von Einstein stammt die Bemerkung, dass die logische Schönheit einer solchen Formel ein Indiz sei für ihre Wahrheit. Für den Griechen waren Schönheit und Wahrheit enge Verwandte. Die Schönheit die Proportion eines Tempels basierte auf mathematischen Berechnungen, die wiederum als wissenschaftliche Formen der Harmonie des Kosmos verstanden wurden. Die Trennung von Kunst und Technik, wie sie seit dem 19. Jahrhundert betrieben wurde und an der auch die Künstler Schuld tragen durch ihre Fluchtbewegungen, diese Spaltung belastet uns bis heute. Die Abspaltung, welche die Kunst an den Rand und Künstler in die Boheme, das Gefühl und die menschliche Vernunft in den Feierabend, den rationalen automatisierten Zwang zum Fortschritt um fast jeden Preis aber in die Arbeitszeit zu rücken sucht, die Ingenieurarbeit zu einem Gedanken - das heißt philosophie- und kunstlosen Zweckvollzugzurückzustutzen sucht, sie reduziert auch den einzelnen Menschen. Brecht spricht in seinem großen Stück über den Forscher und Ingenieur Galilei von einem "Geschlecht erfinderischer Zwerge, die für alles gemietet werden können" Diese Abspaltung, die Zerschneidung von menschlicher Vernunft in berufsbezogene, praktisch handhabbare Filets, ergibt zuletzt die Fächer- und Kastengesellschaft, mit der wir es heute zu tun haben.

 

Technik und Kunst treffen sich in den Arbeiten von Karl Martin Holzhäuser. Als Professor für Fotografie - insbesondere für Sach- und Prozessdarstellung - ist er ständig mit technischen Apparaten und Prozessen befasst. Der Fotograf selbst ist ja ein Homuncullus des 19. Jahrhunderts, eine synthetisch-technische Form des Künstlers aus Optik, Mechanik, Chemie und Industrie. Das "Bild aus der Maschine", die Fotografie, hat bis heute Schwierigkeiten, als künstlerisches Medium in einer technikfeindlichen Kunstszene Anerkennung zu finden, einer Kunstszene, deren ideologische Wurzel im Geniekult des 19. Jahrhunderts und in der damals einsetzenden Fluchtbewegung vieler Künstler vor der industriellen Revolution zu suchen ist.

 

In Holzhäusers Arbeiten verbinden sich viele der angesprochenen Bereiche.

 

1. Seine Lichtmalereien gestaltet er auf fotografischem Material, in der Regel Farbpapiere, Filme, in den jeweils aktuellen von ihm ausgewählten Emulsionen.

 

2. Ein großer Teil seiner Arbeiten entsteht "apparativ", das heißt über Lampen, Vergrößerungsgeräte, unter Verwendung von ihm selbst konstruierter Blenden und Schablonen, einer optischen Bank usw.

 

3. Erst in den letzten Arbeiten, den Lichtmalereien, spielt die "individuelle Handschrift", das heißt die physische Bewegung des Körpers, der Hand eine Rolle bei der Formgebung.

 

4. Die Arbeiten folgen erdachten, rationalen Programmen. Sie haben eine in sich geschlossene Logik der Abfolge mit einer aus dem Programm sich ergebenden Anzahl, Farbe, Form usw. Die Kunst unterwirft sich hier der Programmierbarkeit. Die digitalisierten Denkschritte des Computers werden vorbereitet. Umgekehrt kann eine mit Programmen gestaltende Kunst sich auch des Computers bedienen.

 

5. Die "Schönheit" im Sinne einer geschmackvollen, ansprechenden Farbigkeit und Harmonie dieser künstlerischen Arbeit ist nicht ihr Ziel. Die Farben ergeben sich aus dem technischen Prozess, ihre Zuordnung aus dem rationalen Programm, nicht aus dem subjektiven Gefühl oder dem individuellen Ausdrucksverlangen des Künstlers. Wenn hier der Begriff Schönheit noch verwendet werden kann, so wäre diese Schönheit im Sinne der Vollkommenheit einer mathematischen Formel.

 

6. Die Rationalität dieser Konzepte ist nicht Selbstzweck, sondern sie verbindet sich mit einer inhaltlichen, symbolischen, auch kritischen Aussage, in Gestalt einer künstlerischen Formel oder Formelentwicklung. Die Arbeit "Landschaft 1-5" zeigt die stufenweise Entwicklung einer Vertikalen aus einer Horizontalen, das Grundthema jeden Landschaftsbildes auf die knappste Formel gebracht. Zugleich aber zeigt sie Veränderungen. Geologische Veränderungen in der Landschaft haben aber für uns, die wir auf der Erdoberfläche gefährdet leben, den Charakter von Katastrophen. Dieser Eindruck wird in Holzhäusers Arbeit verstärkt durch die sich entwickelnde, glühend rote Farbe der aufbrechenden Spitzform, die Vulkanausbruch suggeriert. "Eine gedankliche Analogie zur Zerstörung der Umwelt ist dabei gewünscht", meint der Künstler dazu. Holzhäusers neuere Arbeiten brechen zum Teil mit dem apparativen Prinzip, sie zeigen "Handschrift". Sie verlassen auch das mathematische Prinzip. Statt dessen kommen Elemente des automatischen Zeichnens, des Tachismus, der Körpersprache in die Bilder. Mit einer vom Künstler konstruierten, variablen Farblampe, einem Lichtpinsel gewissermaßen, gestaltet er Wellenbewegungen, immer noch Landschaftliches, im dunklen Raum. Auch hierbei löst erst der fotografische Entwicklungsprozess die beabsichtigte, nur zum Teil spekulativ vorgeplante Bildwirkung ein.

 

Das mathemathische Prinzip wurde durch das generative Prinzip des Zufalls erweitert: parallel - nichtparallel. Stellte Holzhäuser bisher nur die Eigenschaften des Mediums selbst dar, Farbe, Unschärfe, Helligkeit, Überschneidungen, Raumbildung, wobei die Fotografie gleichsam in ihre technischen und formalen Bestandteile zerlegt wurde, und dies in einer systematischen, Programme entwickelnden und ausschöpfenden Weise, so geht er in einem weiteren Schritt über zu einer auch die symbolische Lesart von Bildern verwendenden Weise. Landschaftsreduktionen etwa sollen als Zerstörungen durch die Zwanghaftigkeit einer rein mathematischtechnologisch-programmierten, antibiologischen, lebensfeindlichen Entwicklung verstanden werden.

 

Die Arbeiten der Jahre 1986-89 bringen diese Zwanghaftigkeit zum Einsturz. Spaß, Spiel, Sinnlichkeit machen sich breit. Blitzartige Bewegungen einer willkürlichen Lust im technischen Medium, Körperbewegungen, Farbkontraste, dynamischer und zuletzt organischer Prozesse entwickeln sich.

 

Holzhäuser plant zur Zeit in diesem Sinne Musikimprovisationen, er, der auch Trompete spielt, will mit Bildbewegungen und Rauminstallationen auf Musik reagieren, in der Musik agieren. Was sich nun entwickelt, ist jenseits generativer Programme, eine Malerei mit Licht.

 

Marlene Schnelle Schneider

Kognitive Aspekte der Fotografie

Zu den Arbeiten von Janzer, Holzhäuser und Kammrichs

 

In: Bildschaffende Konzepte: Janzer/Holzhäuser/Kammerichs//Sal Hrgb.:Gottfried Jäger Edition Marzona, Stadt Leinfelden Echterdingen 1987

 

O. Einleitung

 

In der neueren Kunsttheorie gibt es Entwicklungen, die sich nicht auf die philosophische Tradition der Ästhetik, die ikonographische Deutung oder den historischen Bildbegriff berufen, sondern sich primär auf die sinnliche Anschauung eines jeweiligen Kunstwerkes konzentrieren, die sich "an einer genuinen Erkenntnis der Kunst orientieren". (1)

 

Das hat zur Folge, dass das Interesse sich wieder stärker dem Sehen zuwendet, daß der Betrachter aktiv, im Prozess des Sehens, die Bildwirkungen erfahren kann, die einer begrifflichen Identifikation vorausgehen. Imdahl unterscheidet dazu das "sehende Sehen" und das "wiedererkennende Sehen". (2)

 

Diese Arbeiten, die sich ausschließlich mit der Malerei beschäftigen, stifteten die Anregung zu einer intensiven Auseinandersetzung über den Zusammenhang zwischen Wahrnehmung und Fotografie. Als ein Resultat dieser Auseinandersetzung war bald abzusehen, dass die Kriterien der Malerei nicht auf die Fotografie zu übertragen waren, da die Bedingungen der Bildlichkeit und ihrer Wahrnehmung in beiden Medien verschieden sind.

 

1. Zur Position der Fotografie

 

Bekanntlich gehört die Kunstwissenschaft zu den Geisteswissenschaften, und sie kann sich bisher nicht auf die Beweiskraft der sogenannten exakten Wissenschaften zurückziehen. Sie ist in ihrer Interpretation auf Sprache angewiesen, mit der sie versucht, das Sichtbare zu erklären und zu verstehen. Wir wissen, dass diese Übersetzungsarbeit unter besonderen Bedingungen stattfindet, denn das Sehen und das zu Sehende fordern von ihr die Umstellung auf eine Wahrnehmungsweise, die sich von der üblichen Erkennung und ihrer begrifflichen Entsprechung grundlegend unterscheidet.

 

Darüber hinaus ist nicht zu übersehen, daß wir in einer langen Tradition der Betrachtung und Beschreibung von Kunstwerken stehen, einer Tradition, die sich seit mehr als zweitausend Jahren mit der Kunst beschäftigt. Es ist dabei nach dem Sein, dem Sinn, dem Inhalt, der Form, der Rezeption, der Funktion und, last not least, nach dem Künstler gefragt worden. Wir halten es nicht für sinnvoll, auf alle Fragen eine Antwort finden zu wollen und beschränken uns deshalb auf die Darstellung der Beziehung zwischen Wahrnehmung und Fotografie.

 

Welche Position nimmt die Fotografie in der neueren Tradition der Kunstwissenschaft ein? Ihr Alter von einhundertfünfzig Jahren ist ja, in der Kunstbetrachtung der genannten Zeiträume, ein sehr jugendliches, und doch müsste es ausgereicht haben, eigene Kriterien für sie zu entwickeln.

 

Die Diskussion um die Zugehörigkeit der Fotografie zur Kunst scheint zugunsten der Fotografie entschieden zu sein, was auf eine Entwicklung des Kunstbegriffs zurückzuführen ist. Die Frage nach ihrem Realitätsgrad ist auch heute noch offen.

 

Die Position der Fotografie in einer Kunsttheorie ist doppelt schwierig, denn einerseits wird ihr eine starke Affinität zur Malerei nachgesagt und unter diesem Aspekt wird sie mit den Kriterien der Malerei betrachtet, wobei sie in der Regel keine positive Beurteilung zu erwarten hat. Andererseits wird die Arbeit des Fotografen mit dem Apparat - auch heute noch - sehr oft auf die Realitätsabbildung eingeschränkt. Die letztere Behauptung wird aus der populären, aber keineswegs richtigen Meinung genährt, dass menschliche visuelle Wahrnehmung und Kameraaufzeichnung identisch seien. Das optische System der Kamera wird mit dem menschlichen Auge verglichen und der Schluss daraus gezogen, dass beide auf die gleiche Weise "abbilden". Diesen Vorurteilen kann aber nur begegnet werden, wenn wir in der Gegenüberstellung von Realitätswahrnehmung und Fotografie die physiologischen und psychologischen Untersuchungen zur Kenntnis nehmen, die in den letzten Jahren erheblichen Aufschluss über die Bedingungen unserer menschlichen Wahrnehmung gegeben haben und die uns helfen können, besser zu verstehen, welchen Stellenwert die visuelle Wahrnehmung innerhalb unserer kognitiven Prozesse einnimmt. 3 Künstler, Rezipienten und Interpreten sind gleichermaßen davon betroffen!

 

2. Eine Ästhetik der Fotografie

 

Aus den Untersuchungen der Relation zwischen Wahrnehmung und Fotografie läßt sich vielleicht eine Ästhetik der Fotografie entwickeln, die auf die ursprüngliche Bedeutung des Wortes als "sinnliche Wahrnehmung" zurückgreift. 4

 

In einer Ästhetik der Fotografie in diesem Sinne, ließen sich die Eigenschaften der Bildlichkeit der Fotografie in der Abgrenzung zur menschlichen visuellen Wahrnehmung und deren Realitätserfahrung aufzeigen und deutlich machen, dass es sich auch schon bei der gegenständlichen Fotografie um eine Transformation des Gesehenen in ein Bild, also um Darstellung handelt, die auch in der Lage ist, anschauliche, konkrete Bildqualitäten zu betonen und ihre Funktion nicht allein in der Vermittlung von Information oder Dokumentation erschöpft. Ja, dass auch die gegenständliche Fotografie geradezu eine Herausforderung ist, an der gezeigt werden kann, wie der erkennbare Gegenstand gewissermaßen den Widerstand zu einer bloßen Identifikation bilden kann, wenn er in entsprechender Weise bildlich transformiert wird.

 

Dabei müssen wir notwendigerweise zu einem anderen Resultat kommen als Vilem Flusser, der die Beziehung Fotograf-Apparat zwar wechselseitig sieht, aber den Fotografen letztlich dem "Apparatprogramm unterwirft und die Fotografie als "ein Bild von Begriffen als einen bildlich umcodierten Text versteht.(5)

 

Auch die Theorie der "generativen Fotografie" (6) scheint uns für die Bildanalyse nicht ausreichend, obwohl die visuelle Wahrnehmung des Menschen für sie ebenfalls ein wichtiges Thema ist. Der wissenschaftliche Ansatz, der mit Hilfe der Informationstheorie, der Kybernetik oder der Semiotik unter Beweis gestellt wird und der die "apparative Kunst, zu der die Fotografie gezählt wird, zugleich in Funktion für "Umweltgestaltung und Design" nimmt, lässt einige Bedenken aufkommen.(7)

 

Wenn Herbert W. Franke die generative Fotografie "zur Musterung von Stoffen, Bodenbelägen, Tapeten" (8) usw. vermarkten will, ist die Behauptung: "Im übrigen ist es für die meisten Autoren der generativen Fotografie gleichgültig, ob man ihre Arbeiten als Kunstwerke ansieht" (9) nur zu verständlich. Wesentlich differenzierter äußert sich Gottfried Jäger dazu. Er definiert die "Generation" in folgender Weise: "Anders als bei der fotografischen Abbildung, bei der das Ziel die weitgehende Erhaltung der "Objektinformation" ist, wird dieser hierbei auf ihrem Weg zur "Bildinformation" absichtlich "objektfremde" Information hinzugefügt".(10) Wir sehen hier, dass Jäger in beiden Fällen mit dem Informationsgehalt argumentiert, wobei nicht ganz klar ist, ob es sich bei der "objektfremden Information" um semantische Information handelt. (11)

 

Uns interessiert vorrangig, wie bei diesem Kommunikationsprozess, Sender-Kanal-Empfänger, die Information im Kognitionsprozess der visuellen Wahrnehmung verarbeitet wird. Es ist ein hervorstechendes Kennzeichen vieler Strömungen unseres Jahrhunderts, zu denen auch die Informationstheorie gehört, Erklärungen auf die Struktur von Gegebenheiten zu beschränken. Die Fragen nach den psychologischen Prozessen und Mechanismen, in denen diese Gegebenheiten wahrgenommen oder gestaltet werden, sind dabei ausgeklammert. Demgegenüber ist charakteristisch für kognitionswissenschaftliche Ansätze der letzten zehn Jahre, die Bedingungen der Wahrnehmung und Gestaltung als Grundlage für das Verständnis von Struktur zu verstehen. (12)

 

3. Die Befreiung des "Nachbildners"

 

Wir werden mit unserem Ansatz versuchen, auch den Fotografen aus der Rangfolge des platonischen "Nachbildners" zu befreien. Hatte Platon doch schon die Maler in das dritte Glied verwiesen, denen er nachsagte, ein Nachbild des Nachbildes einer Idee zu produzieren. Konnte der Werkbildner sich noch auf die Erstellung eines Gegenstandes, so wie er ist, berufen, war der Maler lediglich auf die Abbildung der Erscheinung dieses Gegenstandes angewiesen. (13)

 

Wenn auch das Ansehen der Künstler unter dieser Rangfolge bis heute gelitten hat, so haben sie doch immer wieder den Mut gefunden, dieser Reihenfolge mit ihren Konzepten und Bildern zu widersprechen. Sie haben, entgegen der "naiven" Art zu sehen, gezeigt, dass die Abbildung, oder gar die Nachbildung, selbst bei gegenständlichen Motiven, nicht ihr primäres Thema ist, sondern, dass sie in erster Linie die Darstellung in ihrem Medium als Herausforderung betrachten. Ihre Werke enthalten eine Vielfalt von Möglichkeiten, die die gewohnte Sehweise irritieren, und mit diesen Irritationen sind sie in der Lage, Erkenntnisformen zu erschließen, die nur in der Kunst und nicht in der Realität so vermittelt werden können.

 

4. Das Problem der sprachlichen Dominanz

 

Der Künstler hat aber noch mit einem weiteren Problem zu kämpfen, das er mit den Rezipienten und den Interpreten teilt, der physiologisch angelegten sprachlichen Dominanz des Menschen.

 

Unser menschliches Großhirn, und nur das menschliche, besteht aus zwei asymmetrisch geordneten und arbeitenden Gehirnhälften, den so genannten Hirnhemisphären. Auf der linken Seite ist z.B. die Sprache, die Fähigkeit des Schreibens, Rechnens und die Analyse logischer und zeitlicher Zusammenhänge angesiedelt. Auf der rechten Seite hingegen finden wir die Intonation, musikalische Fähigkeiten, Bild- und Mustersinn, das Erkennen visueller Ähnlichkeiten und geometrische und räumliche Orientierung.

 

Die beiden Hemisphären sind durch den Balken verbunden, (das so genannte Corpus callosum) und dennoch besteht kein Zweifel darüber, dass wir von der linken Seite beherrscht werden, das heißt, dass die sprachliche Seite dominant ist.(14) Es besteht aber auch Grund zu der Annahme, dass die rechte Hälfte schlummernde Fähigkeiten besitzt, die vielleicht durch einvisuelles Medium aktiviert werden können.

 

Hat ein Kind gelernt, die Dinge zu sehen, zu begreifen, zu unterscheiden und sie dann mit einem Wort zu bezeichnen, dauert es nicht lange bis es in der Lage ist, Sätze zu bilden, ja, ganze Gedankenfolgen zu artikulieren, ohne auf die anschauliche Präsenz der Gegenstände angewiesen zu sein. Im Laufe seiner Entwicklung wird der Mensch in die Lage versetzt, in höchster Abstraktion begrifflich zu argumentieren. Die sprachliche Dominanz des menschlichen Gehirns stellt seine Leistung unter Beweis und verweist die visuellen Fähigkeiten des Menschen in eine Rolle, in der sie sich in erster Linie auf die Identifikation, die Wiedererkennung von Umweltmustern reduzieren. Der Mensch hat eine bewundernswerte Stabilisierungstendenz entwickelt, obwohl sich seine Umwelt in ständiger Veränderung befindet und er selbst, durch Bewegung seines Körpers, seines Kopfes und seiner Augen, diese Umwelt aus ständig wechselnden Positionen betrachtet.(15) Schon in der Verarbeitung der ersten visuellen Daten, die das Auge erreichen, findet in der Retina ein starker Abstraktionsprozess statt, der sich in der Weiterleitung zum Gehirn verstärkt. Dabei fällt eine Fülle von Sehangeboten der Selektion des Sehens zum Opfer, um die Orientierung in dieser Welt für den Menschen zu gewährleisten.

 

5. Zur Position des Rezipienten

 

Für den Rezipienten, der sich in der Verarbeitung seiner realen Welt mit Bildern konfrontiert sieht, erwachsen daraus Probleme. Er hat zwar lesen gelernt, aber diese Fähigkeit beschränkt sich auf Buchstaben und Texte und nicht auf Bilder. Seine Wahrnehmung wird von den gleichen Mechanismen bestimmt, ob er Fotografien betrachtet oder aus dem Fenster blickt. Die Ähnlichkeitsbeziehung, die er zwischen Realität und Bild herstellt, wird von den Bedingungen seiner Wahrnehmung bestimmt. Bei der Bildbetrachtung abstrahiert er den Gegenstand von seiner Darstellung, indem er ihn unter den gleichen Bedingungen wahrnimmt wie sein Original. Umberto Eco beschäftigt sich mit diesem Problem, indem er eine Semiotik des visuellen Codes entwickelt:

 

"Wenn das ikonische Zeichen mit irgendetwas Eigenschaften gemeinsam hat, dann nicht mit dem Gegenstand, sondern mit dem Wahrnehmungsmodell des Gegenstandes. Es ist konstruierbar und erkennbar auf Grund derselben geistigen Operationen, die wir vollziehen, um das Perzept zu konstruieren, unabhängig von der Materie, in der sich diese Beziehungen verwirklichen".(16)

 

Wir beschränken uns in unserem Sehen auf das Notwendige, wir sehen über Vieles hinweg, nur so werden wir in die Lage versetzt, uns zu orientieren und zu handeln. Der menschliche Wahrnehmungsapparat ist so konstruiert, dass er diese Vorgehensweise bedingt. Wir sehen von den bildspezifischen Zeichen ab, zugunsten der Bedeutung von Zeichen. Auf dieser semantischen (inhaltlichen) Ebene wird eine Beziehung von Bild und Realität hergestellt, die sich nicht auf das Wahrzunehmende im Bild konzentriert, sondern das Erkennen des Vorgewussten aktiviert oder wie Max Black sagt:

 

"Wenn wir einmal gelernt haben, wie wir durch das partiell verzerrende Medium des Gemäldes und der Fotografie hindurchblicken müssen, sehen wir die abgebildeten Sujets so, als ob sie wirklich vorhanden wären".(17)

 

Bei der Betrachtung von Bildern stehen unsere Wahrnehmungsbedingungen uns sozusagen im Wege. Wenn wir uns nicht auf die besondere Herausforderung der Bilder einlassen, werden wir das Potential der Bildlichkeit nie erfahren können.

 

6. Die Position des Künstlers

 

Der Künstler studiert sein Medium und versucht, seine Möglichkeiten zu erschöpfen. Er ist Rezipient und Produzent zugleich, und er entdeckt die "partiellen Verzerrungen" als Mittel seiner Darstellung. Er möchte vermeiden, dass seine Aussage durch eine vorschnelle Identifikation behindert und dadurch als erledigt abgehakt wird.

 

Viele Künstler, die sich mit der Darstellung in Bildern auseinandersetzen, versuchen der Dominanz der Sprache, dem analytischen Bewusstsein und dem Selektionsprozeß des Sehens entgegenzuwirken. Sie trainieren und sensibilisieren ihre visuelle Wahrnehmung auf sinnliche Anschauung, sie wollen nicht übersehen, sie wollen sichtbar machen. Sie thematisieren in ihren Bildern Sichtbarkeitswerte, die sich nicht auf eine außerbildliche Wirklichkeit beziehen und den Rezipienten in hohem Maße verunsichern, aber ihm gleichzeitig das Angebot einer anschaulichen Erkenntnismöglichkeit bieten, die er aus der Erfahrung seiner Umwelt nicht gewinnen kann.

 

7. Zur Position der Interpretation

 

Aus der Malerei gibt es seit Cezanne anschauliche Beispiele für diese Entwicklung des "autonomen Bildes".(18) In der Fotografie ist die Auseinandersetzung mit diesen Bildstrukturen noch keineswegs geläufig. Eine nicht zu übersehende Problematik ergibt sich aus der Tatsache, dass die Kriterien für eine eigene Theorie der Fotografie allenfalls im historischen Be reich gefunden worden sind, in der Bildanalyse, die sich nicht in erster Linie mit der Ikonographie beschäftigt, aber vieles zu wünschen übrig lassen. Eine Ausnahme bilden die oben erwähnten Positionen, die sich aber auf den Informationsprozeß konzentrieren.

 

Wenn wir es mit Fotografien zu tun haben, mit Bildern, die sich der oben beschriebenen naiven Wahrnehmungsweise nicht anpassen wollen, die der Erwartungsstruktur des Rezipienten in keiner Weise entsprechen, können wir auch die Bildanalyse nicht in angepasster Weise vollziehen. Die Verlockung, die Analyse mit medienfremden Kriterien zu betreiben, ist sehr groß. Aber der Interpret muß sich in erster Linie fragen, was denn in einer Bilderfahrung mit ihm passiert, denn er ist ja auch in seiner Rolle in erster Linie Rezipient.

 

Die Autoren, die sich auf die Bindestrich-Fotografie einlassen, wie "Licht-Malerei" oder "Foto-Skulptur", müssen schon eher auf die Maßstäbe des Nachbarmediums, auf das sie sich zubewegt haben, gefasst sein. Zumal man davon ausgehen kann, dass die Autoren ihre Gründe für diese Grenzüberschreitung gehabt und sich auch mit dem anderen Medium auseinandergesetzt haben......

 

8.2 Karl Martin Holzhäuser: Lichtmalerei

 

Holzhäuser überschreitet die Grenze des Mediums Fotografie und gibt sich bewusst auf eine Gratwanderung. Der Pfad ist schmal und die Neigung zu der einen oder anderen Seite unverkennbar, wenn auch der einseitige Absturz weder geplant noch ersichtlich ist. Der Weg wird durch Licht gekennzeichnet, das Ziel ist die Farbe. Holzhäuser will nicht die Wirklichkeit außerhalb des Bildes einfangen. Er radikalisiert seine Absichten, indem er die Kamera aus der Hand legt und sich nur dem Verarbeitungsprozess zuwendet. Er will den direkten Zugang zum Licht, indem er den "Lichtpinsel" zur Hand nimmt und seine Spuren auf das sensibilisierte Papier malt. Im Gegensatz zur Malerei wird hier ein Vorgang vollzogen, der in seiner ersten Phase in Latenz verharrt - ein typisches Merkmal der Fotografie. Aus seiner umfangreichen Erfahrung mit der experimentellen Fotografie, die sich zunächst in seriellen Arbeiten der apparativen Kunst äußerte, kann Holzhäuser die Kontingenz aus seinen Arbeiten zwar nicht ausschließen, aber sie wird für ihn berechenbar.

 

8.2.1 Die Farbe

 

Die Farbe, ein grundlegendes Element in der Malerei, spielt auch in den Arbeiten von Holzhäuser eine wichtige Rolle. Hat er in seinen frühen experimentellen Arbeiten die Erscheinung der Farbe in "mechano optischen Untersuchungen" (19) fotografisch realisiert, so folgt in logischer Konsequenz dieser Untersuchungen, die optische Darstellung der Farbe als Energieträger ihrer eigenen Wirkungsweise. Dabei wird nun ein deutlicher Unterschied zur Malerei sichtbar, in der die Farbe aus Farbpigmenten und Lösungsmitteln bestehend, additiv gemischt in ihrer konkreten Materialität auf die Fläche gebracht wird. In Holzhäusers Bildern erscheint die Farbe subtraktiv gefiltert, als partielle Lichterscheinung, die auf der Fläche sichtbar wird, aber ihre charakteristische Eigenschaft der "Unfassbarkeit" erhält.

 

Die Arbeiten der letzten Jahre zeigen einen wichtigen Wandel. Holzhäuser nimmt seine Hand in den Dienst des Konzeptes, um mit ihr die Bewegung, die Geste des Körpers ins Spiel zu bringen. Die Verbindung von Auge und Hand sieht Conrad Fiedler als den Ursprung der künstlerischen Tätigkeit: "Es ist vielmehr das Interesse des Auges, welches allein die formende Hand leitet".(20)

 

Die "Handarbeit" Holzhäusers hinterlässt Spuren, die mit farbigem Licht Formen erzeugen, die die Qualitäten der Lichtfarben aus dem Duktus der Hand sichtbar werden lassen. Die Transparenz des farbigen Lichtes erscheint in vielfältigen Variationen bis zu Verdichtungen in satter Farbe. Holzhäuser wählt seine Farben überlegt, er mischt die Farben mit selbst hergestellten Filtern, um die gewünschten Farbwirkungen zu erzielen. Er verwendet bewusst Komplementär- und Simultankontraste, um ihre Wirkungen einzusetzen.

 

8.2.2 Das Format und der Hintergrund

 

Die Formate der Bilder sind nach den Farbformen gewählt. Die geometrischen Formen der früheren Bilder korrespondieren besonders gut mit dem Quadrat. In dem neuen Ansatz der "Gestusbilder" wird das Format der Ausdehnung der Bewegung angepaßt. Es entstehen Hoch- oder Querformate. Das wird besonders in den letzten Bildern dieses Jahres deutlich, in denen das Format auf 120x50 cm anwächst.

 

Im Resultat der fertigen Bilder schweben die Farbformen vor einem weißen Hintergrund, der synonym für die Gesamtheit der Farben, für das weiße Licht steht. Er ist, wie die Farbformen, immateriell, räumlich nicht zu verorten und in diesen Eigenschaften als Fläche oder als unendlicher Raum zu deuten. Die Bildgrenzen übernehmen hier sehr deutlich die Bezugsfunktion zu den innerbildlichen Elementen.

 

8.2.3 hell/dunkel 1986

 

Die beiden Lichtmalereien von 1986 sind als Paar zu sehen, da sie eine ähnliche Abfolge von Farbstreifen in unterschiedlichen Farbintensitäten zeigen.(21)Es handelt sich um Hochformate von 60x50 cm. Diesem Format entsprechend sind jeweils fünf vertikale Farbstreifen gezogen, die durch den Duktus der Hand mit einer Farbmassierung in leichter Schräge ansetzen, die sich im Verlauf der Bewegung in Transparenz auflöst, um sich am Ende wieder in einer Massierung und Schräge abzusetzen. Der Abstand zwischen den Streifen ist durch die Bewegung unregelmäßig und dort, wo er sich öffnet, gibt er das Weiß des Hintergrundes frei. An anderen Stellen entstehen Überlappungen, die neue Farbwerte bilden und die Streifen zu einer Form verschmelzen lassen.

 

Im dunklen Bild rechts ist der weiße Spalt durchgängig mit dem Hintergrund verbunden, wird durch den Vollzug des linken Nachbarstreifens selbst "beweglich" und erhält dadurch einen gewissen Eigenwert, der durch den Kontrast die dunkleren Farben akzentuiert. In den dunkleren Streifen werden Querstreifen sichtbar, die eine gegenläufige Bewegung anzeigen.

 

Durch die Schrägen, die Überlappungen, entsteht eine nicht zu bestimmende Räumlichkeit, die ein Davor oder Dahinter signalisieren. Die Akzente sind aber nicht stark genug, um in die Fläche zu stoßen, und der Schwebezustand der Farbformen bleibt erhalten.

 

8.2.4 Lichtmalerei 87, 28.2 In den großen Formaten (50x120 cm) der jüngsten Arbeiten Holzhäusers zeigt sich eine deutliche Entwicklung seines Konzeptes. Es wird ein Spannungsverhältnis zwischen Farbe und Form erzeugt, das in den anderen Bildern so nicht zum Ausdruck kommt. Die Form, die sich aus der Geste und der Farbe konstituiert, potenziert ihre anschauliche Bewegung in mehrfachen Ebenen.

 

Die Formen stehen nie symmetrisch zur Fläche, bzw. zu den Bildgrenzen. Das erzeugt eine spontane Instabilität, zu der sich der Betrachter verhalten muss. In dem Hochformat 87,28.2 "steht" zudem eine kegelähnliche Binnenform auf ihrer Spitze, die nicht eindeutig in einem spitzen Winkel zusammenläuft. Bei näherem Hinsehen ist dann auch zu bemerken, dass diese Form einem Kegel eben nur ähnlich ist und der Betrachter, in diesem Fall die Interpretin, nach einer analogen sprachlichen Bezeichnung sucht. Sie ist aus der gewussten Erfahrung nicht zu entnehmen und die Verunsicherung drängt dazu, das zu Sehende aufzunehmen.

 

Der Bildautor denkt nicht daran, es dem Betrachter leicht zu machen. Er bietet keine geschlossene Form an. In ihrer Offenheit ist sie vom Betrachter zu ergänzen, zu vollenden. Das Bildereignis findet im Prozess der Wahrnehmung, im Vollzug der Rezeption statt. Darauf hin sind auch die anderen Elemente des Bildes angelegt.

 

Dieses Bild wird von den Farben Blau und Gelb bestimmt. Das Gelb, das in relativ satter Massierung den oberen Bereich im Querverlauf markiert, setzt an, unterbricht, um in einer etwas höher liegenden Ebene zu einem etwas längeren Streifen wieder anzusetzen und wieder abzubrechen. Erst im dritten Ansatz holt es zu einem längeren Impuls aus, der sich aber schon im Ansatz eine kurze Abzweigung schräg nach unten erlaubt. Von den Ansatzkanten laufen blaue Farblinien zusammen, die sich in ihren Treffpunkten überschneiden und kleine Binnenformen bilden. Dieses Blau der nach unten verlaufenden Linien tritt in unterschiedlicher Konzentration auf. An den Linien möchte man von Blausäumen sprechen, die sich in den Schnittpunkten überlagern und zu satter Farbpräsenz verdichten.

 

Man könnte nun diese "Blaulinien" und "Gelbstreifen" isoliert betrachten, weil sie nach oben hin offen sind und dem Hintergrund freien Einfluss lassen. Doch auch hier ergänzt das Auge, nimmt es den Hintergrund in seiner weißen Fläche als Bestandteil der Form auf und entwickelt den Eindruck der räumlichen Illusion. Der Hintergrund verliert seine eindeutige Bestimmung und wird in doppelter Funktion gesehen. Das heißt, die leere Fläche wird durch die Grenzlinien in ihrem Volumen bestimmt. Dazu bedarf es keiner durchgehenden Umrisslinie, die Akzentuierung in wesentlichen Bereichen lässt den Betrachter eine Form erkennen.

 

8.2.5 Das Angebot

 

Wir sehen, dass die Bilder Holzhäusers nicht nur die Farbformen schweben lassen, sie vermitteln auch dem Betrachter eine Möglichkeit der Loslösung von eingefahrenen Erfahrungen. Die Farbe in diesen Bildern ist nicht mehr Lokalfarbe, das heißt sie bezeichnet nicht mehr etwas, sie zeigt sich auch nicht mehr in Abhängigkeit von einer wechselnden Beleuchtungssituation, sie ist nichts als sie selbst, und in dieser Funktion vermittelt sie ihre eigene Energie und Dynamik.

 

Die Bilderverunsichern den Betrachter und bieten ihm gleichzeitig in diesem Zustand ein Seherlebnis an, das sich weitgehendst der begrifflichen und sprachlichen Beschreibung entzieht und ihm deutlich werden lässt, dass es außerhalb dieses Bereichs durch Anschaunung ausgelöste Erlebnisse geben kann. Diese Erfahrungen veranlassen ihn vielleicht, sie teilweise auf die Wahrnehmung der Realität zu übertragen. Voraussetzung ist allerdings, daß er sich auf das Angebot einlässt. Anmerkungen

 

(1) Gottfried Boehm 1980, S.190; vgl. dazu auch Boehm 1978, Imdahl 1980 und 1981; Bockemühl 1985
(2) Imdahl 1981, S. 10. In diesem schon 1974 im Wallraf-Richartz-Jahrbuch erschienenen Aufsatz: "Cezanne-Braque-Picasso: Zum Verhältnis zwischen Bildautonomie und Gegenstandssehen", zeigt Imdahl, daß das normale Verhältnis von "sehendem Sehen" und "wiedererkennendem Sehen" an Bildern von Cezanne eine "Umwertung". . . "zugunsten des sehenden Sehens bedingt...". In der an Giottos Arenafresken entwickelten "Ikonik" zeigt Imdahl, dass beide Formen des Sehens einander bedingen und vermittelt werden können zu einer "Sinntotalität". Imdahl 1980, S. 92
(3) Vgl. dazu Gombrich 1984, S. 240 ff. und Schnelle-Schneyder 1984, S. 639-646
(4) Philosophisches Wörterbuch, Freiburg 1958, S. 21f. Hier wird die Ästhetik, von Baumgarten 1750 als Begriff geprägt, als die "Wissenschaft von der Sinneswahrnehmung im Ggs. zu jener von der geistigen Erkenntnis" definiert. Im Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Hamburg 1955, S.82 heißt es zur Ästhetik: ",die die Sinne betreffende Wissenschaft', die Lehre von den sinnlichen Wahrnehmungen und den durch sie gewonnenen Erkenntnissen"
(5) Vgl. Flusser 1983, S. 14
(6) Der Begriff "Generative Photographie" wurde 1968 von Gottfried Jäger geprägt, für "eine Erzeugungsfotografie auf analytisch-konstruktiver Grundlage". Jäger 1986, S. 20 Vgl. dazu auch Jäger, Holzhäuser 1975
(8) ebd.S.18
(9)ebd. S. 14
(10) Jäger 1975, S. 27
(11) Max Black hat auf die Problematik der Beziehung zwischen Information und Fotografie hingewiesen und gezeigt, dass sie auf die Frage, wie stellen Bilder dar?, keine befriedigende Antwort geben. Black 1977, S. 127-130
(12) Vgl. dazu Gibson 1982; Gombrich 1984; Wickelgren 1979
(13) Vgl. dazu: Platon, Hamburg 1958, Politeia, X. Buch, § 595-604, S. 288 ff.
(14) Vgl. hierzu: Popper, Eccles, 1982 Teil II S. 281 ff.; Sinz, 1978, S. 159 ff.; Schnelle, 1981
(15) Vgl. dazu Gibson 1982
(16) Eco, 1972, S. 213
(17) Black 1977, S. 135
(18) Vgl. dazu Imdahl 1981, S. 9 ff.
(19) Jäger, Holzhäuser 1975, S.202
(20) Fiedler,1977,S.229

 

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